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Deine Stimme in meinem Kopf - Roman

Deine Stimme in meinem Kopf - Roman

Titel: Deine Stimme in meinem Kopf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deuticke
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waren ja auch schön. Meine Eltern wollte er nicht kennenlernen (»Ich hab’s nicht so mit Eltern«). Auf seiner No-Liste standen außerdem:
    1. Kuchen
    2. Poesie
    Beides Dinge, die ich wirklich liebe. Ich bekomme sogar beide ganz gut hin. Alles, was ich sagen kann: Ich war neu in der Stadt. Ich kannte so gut wie niemanden. Und er war groß und attraktiv und hatte herrlich weiße Zähne.
    Das erste Mal ging ich im Jahr 2000 zu Dr. R – schien mir ein gutes Jahr, um sein Leben zu ändern. Ich war mit der 6 gefahren, direkt von der Notaufnahme aus, wo sie mich über Nacht behalten hatten. Ich war so gefühllos geworden im Leben, dass ich Sex nur spürte, wenn es wehtat, und dabei sah ich mich aus weiter Ferne auf dem Bett liegen. Trotz des Ritzens und der Bulimie kam ich mit meinen selbstzerstörerischen Bemühungen nicht schnell genug voran, sodass mein Lover mir dabei half. In jener Nacht war er jedoch zu weit gegangen. Obwohl die U-Bahn voller lärmender Schulkinder war, fühlte ich mich wie in einem Schlauchboot auf hoher See. Ich spürte das Blut noch tropfen, als ich in Dr. Rs Wartezimmer saß und eine alte
New York Times
durchblätterte. Die roten Flecken auf meiner weißen Baumwollunterwäsche ließen mich an jemanden denken, der in einem verschneiten Irrgarten verblutete – und mit genau diesem Gefühl hatte es auch angefangen. In der
New York Times
war eine Karikatur, die ich nicht begriff. In meinem damaligen Zustand fühlte ich mich so einsam, so verloren und von allem getrennt, dass mir die Tränen kamen. Und so fand mich Dr. R vor, blutend und heulend, als ich endlich auf eine Empfehlung reagierte, die ich schon Monate zuvor bekommen hatte.
    Die Tür wurde geöffnet, und Dr. R stand wie eine Debütantin bei ihrem ersten Ball oben im Treppenhaus, ein schlanker Mann mit schütterem Haar und einem Rollkragenpulli, den er in seine Cordsamthose gesteckt hatte, deren Gürtel viel zu hoch saß. Ich war richtig schockiert, als ich von Barbara, seiner Frau, erfuhr, dass er erst dreiundfünfzig gewesen war, als er starb. Seine Klugheit und sein fast unter der Brust sitzender Gürtel ließen ihn wesentlich älter wirken.
    Meine Augen schweiften durch sein Zimmer. Ein Buch, das er über Kokainmissbrauch geschrieben hatte. Drei Tiffany-Lampen. Und ein gerahmtes Foto seiner beiden Söhne (Andy und Sam – deren Namen ich allerdings erst später aus dem Nachruf erfuhr). Ein kleiner Innenhof (doch das Fenster war nur im Sommer geöffnet, wenn von der Schule auf der anderen Straßenseite nicht zu viel Lärm herüberdrang). Am schönsten fand ich ein Kunstwerk: ein hölzerner Apothekerschrank aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert, mit ebenso alten Arzneien, darunter auch Arsen.
    Dr. R lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück, wie eine Katze, die es sich auf dem Sofa gemütlich machte.
    »Sie haben geweint«, sagte er.
    »Die Fahrt mit der U-Bahn hat ziemlich lange gedauert«, entgegnete ich und machte die Linie 6 für meine Tränen verantwortlich, obwohl ich ihr nichts Schlimmeres vorzuwerfen hatte, als dass es nach McDonald’s gestunken hatte.
    Die Linie 6 heißt auch IRT Lexington Avenue Line und befördert täglich an die 1,3 Millionen Fahrgäste. Sie ist die einzige U-Bahn-Strecke in Manhattan, die die Upper East Side befährt, und sie führt von Downtown Brooklyn durch Lower Manhattan und endet im Norden in der 125th Street in East Harlem. Sie wurde am 17. Oktober 1904 eröffnet, und wenn ich damit zu Dr. R fuhr, konnte ich mir an meinen schwärzesten Tagen sagen: »Ein Jahrhundert alt, und sie fährt immer noch!« Es gibt siebenundzwanzig Haltestellen, aber nur dreiundzwanzig werden noch bedient, was das Ganze irgendwie menschlicher macht. Wenn der Zug an der verdunkelten Haltestelle der 18th Street vorbeiraste, ohne sie eines Blickes zu würdigen, stellte ich mir vor, dass die Haltestelle 18th Street einfach in Rente gegangen war, weil sie für diese Welt zu sensibel war. In Wirklichkeit waren die neuen Züge mit ihren zehn Waggons einfach nur zu lang für ihren Bahnsteig. Doch ich sah in allem nur Schmerz und Trauer, und ich spülte diese Gefühle in meinem Mund hin und her wie edlen Wein.
    Nach dem Tod von Dr. R fand ich heraus, dass er viele Menschen gerettet hat. Es ist ein komisches Gefühl, ein bisschen so wie man als Erwachsener feststellt, dass auch andere Leute den
Fänger im Roggen
gelesen haben, nicht nur man selbst. Ich wusste, dass er der Direktor des Kokain-Missbrauch-Programms am Columbia

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