Delfinarium: Roman (German Edition)
um ihre Chancen zu verbessern, und mich befällt kurz die Vorstellung, Susann würde ebenfalls den Arm heben und schnipsen, aber es bleibt still und bewegungslos neben mir, und ein kleiner, dicker Junge mit einem Topfschnitt steigt schließlich ins Boot und ich bereue, dass ich kein Kind mehr bin und nicht den Mut habe, mich trotzdem zu melden. Ich könnte aufstehen und den Gang hinuntergehen, den Jungen aus dem Boot ins Wasser schubsen und statt seiner Platz nehmen. Ein Raunen ginge durch das Publikum. Die Trainerin würde die Fäuste in die Hüften stemmen, aber bevor sie etwas tun könnte, stieße ich das Boot vom Beckenrand ab. Die Kinder würden mich böse anstarren, neidisch, wieso denn ein Großer, das darf nicht sein, der braucht das nicht, aber es würde mir nichts ausmachen, das Boot läge tief im Wasser, und der Delfin müsste sich anstrengen. Er würde mich aus seinen Äuglein über das Tau hinweg vorwurfsvoll angucken, weil ich den Jungen ins Wasser geworfen hätte. Der Junge krabbelte weinend aus dem Becken, die nasse Kleidung klebte an seinem dicken Körper. Der Delfin hieße nicht gut, was ich getan hätte, nicht nur, weil es so anstrengender wäre. Es ist eben ein Vergnügen für Kinder, nicht für Erwachsene. Es macht ihm mehr Spaß, ein Kind glücklich zu machen. Ich würde ihm gerne erklären, wie wichtig es ist, mich glücklich zu machen und dass ich es genauso verdiene wie ein Kind, dass ich es wert bin, aber dann wäre es mir auch egal, soll er doch denken, was er will, er soll sich nicht so anstellen, sondern ziehen. Schneller, du Fisch, riefe ich ihm zu und müsste lachen. Und er würde tatsächlich schneller, das Boot nähme Fahrt auf, schneller und die Bugwelle größer, ich bekäme Angst und müsste mich am Rand festhalten, in der Höhe sähe ich Susann sitzen, klein, sie hätte das Gesicht in beide Hände gestützt und beachtete mich gar nicht.
Ich kann die Delfine unmöglich auseinanderhalten, ich kann sie nicht den Namen zuordnen, die die Trainerin zu den Kunststücken ansagt. Für mich sehen sie alle gleich aus.
Die Kinder klatschen.
Susann wendet mir den Kopf zu, sieht mir glücklich und gelöst in die Augen, sieht mich direkt und wirklich an, sie sagt: »Schön.«
Dann wendet sie sich wieder den Delfinen zu.
Ich sehe sie an und frage mich, ob ich es wirklich gehört habe oder ob ich es habe hören wollen. Habe ich es geträumt oder erfunden? Es klingt in mir nach, aber ich bin mir nicht sicher.
Es ist sehr still um mich herum.
Sie bleibt sitzen, auch als die letzten Kinder das Delfinarium verlassen haben. Sie betrachtet versunken das Wasser, dessen Oberfläche sich nach und nach zurück in einen ruhigen Spiegel verwandelt. Das Delfinarium ist jetzt leer bis auf einen alten Mann in einem braunen Anzug mit silbernen Haaren, der ebenfalls sitzen geblieben ist, der uns im Halbrund gegenübersitzt. Der Alte schaut zu uns herüber. Susann steht auf. Ich blicke zu dem alten Mann hinüber, der ebenfalls Anstalten macht zu gehen.
Sie hat sich zurück in stilles Nichts verwandelt. Sie schleicht mit gesenktem Kopf neben mir die staubigen Tierparkwege entlang, hält die Handtasche am Riemen und lässt sie baumeln. Ich würde ihr gerne die Hand auf den Rücken legen und sie streicheln, es ist ein Impuls meiner linken Hand, aber ich traue mich nicht, wir kennen uns ja kaum. Ich betrachte ihre Wirbelsäule, die sich Wirbel für Wirbel überdeutlich durch die Bluse abzeichnet. Ich lasse sie in ihrer Welt und stehe selbst am Rand, sehe ihr zu und vergesse für eine Weile, dass es auch eine Welt gibt, in der ich zu Hause bin. Ich frage mich, ob es das Glück wert ist, das sie erlebt hat, wenn sie jetzt wieder stumm und traurig ist. Die Sonne steht tiefer am Himmel, ich genieße das milde Licht. Fern höre ich einen Pfau schreien. Ich frage mich, ob ich es eines Tages verstehen werde.
4. Dissoziative Amnesie
Henry hat die Tür geöffnet und sieht uns forschend an, von Gesicht zu Gesicht.
»Wie war’s?«, will er wissen.
»Gut«, sage ich und kann ihm nicht in die Augen blicken.
Susann lässt ihn stehen, hängt ihre Handtasche an einen Kleiderhaken. Mir fällt auf, dass sie die Tasche nicht ein einziges Mal geöffnet hat. Sie steigt langsam die Treppe zu ihrem Zimmer hoch. Beide schauen wir ihr hinterher, Henry und ich.
»Kann ich ein Bier bekommen?«, frage ich. Henry sieht mich erfreut an.
Er öffnet die Ziehharmonikatür für mich und ich setze mich auf meinen Zweisitzer, schaue
Weitere Kostenlose Bücher