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Delfinarium: Roman (German Edition)

Delfinarium: Roman (German Edition)

Titel: Delfinarium: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Weins
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in den Garten, wo die Vogelskulptur von der Abendsonne effektvoll orange in Szene gesetzt wird. Er muss den Rasen mähen, denke ich, sonst bekommt er Ärger mit den Nachbarn, wie wir. Er betritt das Wohnzimmer mit zwei Bieren in der Hand, diesmal sind es Flaschen, vielleicht zur Feier des Tages, weil ich gefragt habe, Heineken, aber mir ist es eh egal. Bier ist Bier. Er gibt mir meine Flasche und setzt sich in sein abgeschabtes Lederungetüm, das unter ihm nachfedert. Wir stoßen die Flaschenböden aneinander und nehmen einen Schluck.
    »Ging es gut?«, fragt er.
    »Ja«, sage ich, »alles okay.« Und ich erzähle ihm nicht, dass sie eventuell gesprochen haben könnte, ich bin mir nicht sicher.
    »Schön«, sagt Henry, und wir sehen beide auf die Tischplatte hinab, eine Weile.
    »Erzähl mir doch bitte noch einmal genau«, sage ich, »was mit ihr los ist. Ich glaube, ich habe es nicht richtig verstanden.«
    Er steht auf, um etwas aus einer Kommodenschublade zu kramen. Er kommt mit einen Notizblockzettel zurück und hält ihn mir hin. Auf dem Zettel steht Dissoziativer Stupor und darunter Dissoziative Amnesie in einer weiblichen, runden Handschrift mit großen Buchstaben. Henry zeigt auf den zweiten Begriff.
    »Das hat die Ärztin aufgeschrieben. Jetzt leidet sie an dem hier. Dissoziative Amnesie . Vorher war es Dissoziativer Stupor . Dissoziativer Stupor ist in Dissoziative Amnesie übergegangen.«
    »Aha«, sage ich. »Und was ist der Unterschied?«
    »Amnesie ist, wenn man sich an nichts erinnert, und Stupor ist, wenn man sich nicht bewegen kann.«
    »Und was bedeutet dissoziativ?«
    Henry erzählt, wie Susann im Krankenhaus nur noch apathisch dagelegen habe, sie interessierte sich weder für das Kind noch für ihn, für nichts, was um sie herum vorging. Das Kind war mit Kaiserschnitt geholt worden, während der Geburt hatte sie das Bewusstsein verloren. Sieben Minuten war sie weg gewesen, und als sie wieder erwachte, war alles anders. Sie guckte irgendwie ins Nichts, ihre Hände blieben verkrampft, sie sprach nicht mehr. Sie bewegte sich nicht, musste gefüttert, musste angezogen werden. Für ihn, für Henry, den Laien, hatte es ausgesehen, als befände sie sich nach wie vor im Koma.
    »Nein«, hatte die Ärztin gesagt. »Schauen Sie doch mal genau.«
    Henry hatte die ganze Zeit schon genau hingeschaut, wie ein Uhrmacher mit einer Lupe.
    »Die Pupillen bewegen sich«, sagte die Ärztin. »Es sind Bewegungen, die äußeren Reizen folgen, willentliche Bewegungen, sehen Sie?«
    Sie hatte Susann mit ihrer kleinen Stablampe in die Augen geleuchtet. Die Pupillen hatten sich zusammengezogen, Susann hatte weggeguckt.
    »Sie können an den Pupillenbewegungen erkennen, dass sie weder bewusstlos ist noch sich in einem Wachkoma befindet, dass sie jetzt in einem wachbewussten Zustand ist. Wir sprechen von Dissoziativem Stupor.«
    »Aha«, hatte Henry gesagt und Susanns Pupillen beobachtet, die unter den halb geöffneten Lidern von einer Geräuschquelle zur nächsten wanderten oder sich gen Fenster wandten.
    »Und was bedeutet das?«
    »Manchmal verharren Patienten nach einem traumatischen Erlebnis physischer oder psychischer Art in einer Art Schockzustand, sie sind wie gelähmt, sie bewegen sich nicht, sie reden nicht, es ist, als wären sie gar nicht da, als befänden sie sich tatsächlich im Koma, unbewusst stellen sie sich tot.«
    »Ah«, hatte Henry gesagt. Die Geburt seines Sohnes, ein traumatisches Ereignis. »Und wie lange hält das an«, wollte er wissen, »wird sie wieder normal?«
    »Erfahrungsgemäß ja«, sagte die Ärztin, »aber sie braucht Zeit.«
     
    »Aber sie bewegt sich doch, kleidet sich selbst an und so«, sage ich und denke, Trauma, Koma, was sind das überhaupt für Begriffe? Kann man schon von einem Koma sprechen, wenn jemand nur sieben Minuten weggewesen ist? Das kommt mir alles etwas übertrieben vor. Ich schaue mir Henrys Pupillen an, die starr auf einem Punkt verharren.
    »Ja, jetzt. Jetzt leidet sie ja auch an Dissoziativer Amnesie. Weißt du, was das bedeutet? Sie erinnert sich an nichts. Vielleicht fragt sie sich die ganze Zeit, was sie hier soll, in dieser Umgebung. Sie weiß wahrscheinlich weder, wer sie ist noch, wer ich bin.«
    »Unangenehm«, sage ich, weil sich meine Rückenhaut zusammenzieht. Ich stelle es mir unangenehm für beide vor. Für ihn, weil seine Frau, die ihm völlig vertraut war, sich innerlich in eine Fremde verwandelt hat, und für sie, weil es ein Albtraum sein muss, wenn

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