Delfinarium: Roman (German Edition)
man nicht weiß, was die fremden Menschen von einem wollen.
»Brrr«, mache ich.
»Ja«, sagt Henry. Er sieht mir in die Augen, dann machen sich seine Pupillen selbstständig, wandern dissoziativ von der Gardine über die Tapete.
»Was ist mit dem Kind?«, frage ich. »Erkennt sie das auch nicht?«
»Nichts«, sagt Henry. »Sie reagiert gar nicht. Anfangs habe ich ihn ihr auf den Arm gegeben. Aber sie war bloß immer ganz steif. Und er fing an zu weinen, irgendwann schrie er immer richtig. Da habe ich es gelassen.«
Ich sehe ihn mir an, wie er vor mir sitzt, kleine, ehrliche Augen.
»Ich weiß nicht«, sagt er. »Die ganzen medizinischen Erklärungen und so. Irgendwie bedeutet es auch nichts.«
»Wie?«, frage ich.
»Ich weiß nicht, ich habe das Gefühl, dass es noch etwas anderes ist.«
»Aha?«, frage ich.
»Ja, das musst du herausfinden für mich. Du musst die Augen offen halten.«
»Klar«, sage ich, aber ich weiß nicht genau, was er meint.
»Was ist mit der Kleidung?«, frage ich. »Warum trägt sie diese Kleidung?«
»Ich dachte, es bringt sie irgendwie zurück, die Erinnerung und alles. Vor dem Unfall ist sie Stewardess gewesen. Eigentlich hatte sie Pilotin werden wollen, als Kind schon. Sie hatte Pilotin werden wollen und nicht Stewardess. Außerdem sehe ich das gerne an ihr.«
Henry lächelt.
»Und wie war sie vorher, vor dem Koma?«
Er guckt sein Bier an, pult am Etikett herum.
»Sie war vollkommen ...«
Er lässt den Kopf hängen und seufzt.
»Tja«, sagt er und schaut länger in seine Bierflasche hinein. Bierflaschensatzlesen. Dann trinkt er sie in einem Zug leer. Er sieht mir ins Gesicht. »Willst du auch noch ein Bier?«
Ich nicke ihm zu, mehr aus Neugierde, denn aus Höflichkeit, zwei Biere werden ja wohl auch noch gehen.
Ich schaue Henry nach, der in die Küche geht, seiner schwarzen, aufgekrempelten Jeans, seinem grauen Sweatshirt, seinen Tennissocken. Und ich befürchte, dass ich ihm nicht alles erzählen werde, jetzt nicht und später ebenfalls nicht. Das mit dem Sprechen, auch wenn es ein wichtiger Fortschritt gewesen sein kann. Vertrauen hin oder her. Geheimnis oder nicht, medizinische Begriffe. Ohne genau zu wissen warum, glaube ich, dass es gut ist, wenn Susann und ich ein Geheimnis haben. Ich ahne, dass so etwas schnell in die Hose gehen kann, aus einem kleinen Geheimnis wird schnell ein großes und so weiter. Aber es ist mir egal. Irgendwie meine ich so eine Ahnung zu haben, ein Gefühl im Bauch oder etwas tiefer, dass es richtig ist, richtig für Susann. Und richtig für mich. Ich lege mein Gesicht in die Hände. Ich beeile mich, das erste Bier auszutrinken. Das Licht im Garten ist sehr intensiv und ich fühle mich Henry nahe, der mit seinen Brillengläsern den Abendhimmel reflektiert hat. Hübsch hat das ausgesehen, aber ich habe seine Augen nicht erkennen können. Er stellt ein neues Bier vor mich hin.
»Was willst du eigentlich mal machen?«
Henry schaut mich neugierig an.
Die Bierflasche, die sich auf dem Weg zu meinem Mund befand, verharrt auf halber Strecke.
»Wie? Wie jetzt?«
»Ich meine, beruflich? Warum kannst du es dir leisten, so großzügig mit deiner Zeit umzugehen?«
Was will er denn, was soll das denn jetzt bitte? Ich stelle hier die Fragen, habe ich gedacht.
»Wie meinst du das?«, frage ich.
»Na ja, du kannst hierherkommen, um mit Susann in den Zoo zu gehen. Das ist doch Luxus. Du sitzt nicht im Büro oder im Taxi oder was weiß ich. Du studierst nicht und machst keine Ausbildung. Du arbeitest nicht. Oder hast du sonst noch einen Job?«
»Moment«, sage ich. »Ich habe vor noch gar nicht allzu langer Zeit meinen Schulabschluss gemacht.«
»Das ist doch auch schon eine Weile her, oder?«, sagt Henry.
»Na ja«, sage ich, »und danach habe ich lange gejobbt. Ich brauche eben Zeit, um sorgfältig zu überlegen, was ich mit meinem Leben wirklich anfangen will.«
»Als ich in deinem Alter war, habe ich bereits ewig lange richtig gearbeitet!«
»Ja, du«, sage ich und mir fällt auf, dass es abschätzig klingt. Bei ihm ist das ja wohl eine ganz andere Sache. Ich erzähle ihm lieber nicht, dass ich das ganze Prinzip Arbeit ablehne. Warum soll man etwas tun, wozu man keine Lust hat, nur um nichts weiter als am Leben zu bleiben? Ich finde alles extrem sinnlos. Wozu sich abstrampeln? Mich hat keiner gefragt. Man hat mir keine Wahl gelassen, ob ich überhaupt auf die Welt kommen wollte oder nicht. Jetzt bin ich da, jetzt muss ich leben, aber keiner
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