Delfinarium: Roman (German Edition)
Abendhimmels zu stürzen.
Die Fotos in silbernen Rahmen auf dem Regalbrett zeigen alle einen kleinen Jungen mit blonden Haaren in verschiedenen Posen. Auf einem Bild liegt er auf einer ausgebreiteten Decke, auf einem anderen reitet er auf dem Rücken einer hölzernen Schildkröte. Der Junge sieht viel älter als fünf Monate aus. Finde ich. Manuel. Ich höre die Treppe knarzen.
Henry schiebt seine Frau ins Wohnzimmer. Sie bleibt hinter der Schwelle stehen, sodass er gezwungen ist, draußen zu bleiben. Sie trägt einen dunkelblauen Rock und eine weiße Bluse und über der Bluse ein dunkelblaues Jäckchen. Es sieht aus wie eine Uniform, eine Stewardessenuniform, es ist aber ganz normale Kleidung. Zivilkleidung. Es sind keine Abzeichen darauf. Sie trägt eine Strumpfhose und dunkelblaue Schuhe mit flachen Absätzen. Um den Kragen der Bluse ist ein gelbes Tuch geknotet. Ihr Haar beherrscht den Raum, es flutet zu mir herüber und rührt mich auf eine unerklärliche Weise an, ein ganzes Weizenfeld von Haaren, ein Python aus Licht, der sich zu mir herüberringelt und sich mir um den Hals legt, zudrückt. Das blondeste Haar, das ich jemals zu Gesicht bekommen habe, blendend fließt es an ihrem Gesicht vorbei auf ihre Schultern und bedeckt ihre Brust, es muss ihr bis auf den Rücken reichen, sie trägt eine schimmernde Aureole, und ich sitze mit offenem Mund und brauche eine Weile, bis ich mich von ihrem Scheitel löse, tiefer schaue, bis ich ihr in die Augen sehen kann.
»Das ist Susann«, sagt Henry, schiebt sie noch ein Stück nach vorne.
»Susann, das ist Martin. Setz dich bitte.«
Sie setzt sich auf den Platz, auf dem Henry zuvor gesessen hat, die Knie eng beieinander, die Hände auf den Knien. Sie schaut an mir vorbei geradeaus in den Garten, wo sich ihr Blick verliert. Sie hat eine stark gewölbte Stirn, darunter liegen zwei türkise Augen verborgen, sie glimmen nur für sich, still vor sich hin, und haben nichts mit mir oder irgendeinem anderen Adressaten zu tun. Sie sitzt sehr gerade und ist ebenso groß wie ich, wenn nicht größer, ich habe mich noch nie besonders gerade halten können.
»Hallo«, sage ich, »ich bin Martin.« Eigentlich sollte ich sagen: »Ich bin Daniel, mein Nachname ist Martin«, aber ich will die beiden nicht enttäuschen. Ich bin verwirrt, ich weiß nicht, wohin mit meinen Blicken. Ich blicke auf meine Hände, die sich selbsttätig reiben. Sie folgt meinen Blicken. Wir schauen beide meinen Händen zu. Und für einen kurzen Moment blickt sie mir in die Augen, bevor sich ihr Blick wieder in den Garten verliert. Und plötzlich weiß ich, dass alles gut werden wird. Was genau, weiß ich nicht, aber in diesem Moment ist alles richtig. Ich bin glücklich und sehe zu Henry hoch, der ebenfalls gerührt zu sein scheint und sich hinters Brillenglas fasst.
Ich bin verzaubert, es ist der Giraffeneffekt. Ich fürchte, dass sich der Boden unter mir bewegen, sich absenken könnte, und ich hinge plötzlich in der Luft, unfähig, mich zu bewegen.
Susann, probiere ich innerlich aus, Manuel, Henry, Martin.
Ich fühle mich betrunken, als ich mein Fahrrad aufschließe. Henry lehnt mit verschränkten Armen in der Haustür und stellt mir die Frage, auf die ich irgendwie gewartet habe: »Wie heißt du eigentlich mit Nachnamen? Wenn ich mal bei dir anrufen muss.«
Super, das kann ja heiter werden.
»Daniel«, sage ich, »Martin Daniel.«
»Lustig«, sagt er, »zwei Vornamen.«
Ich stelle mir vor, wie mein Vater ans Telefon geht und sich mit »Martin« meldet. Ich kann ihn wohl kaum dazu überreden, sich mit meinem Vornamen zu melden. Und Henry wird fragen: »Martin, bist du’s?«
Mein Vater wird sagen: »Bitte?«
Und Henry: »Ich wollte Martin sprechen. Sind Sie Herr Daniel?«
Ich blase meine Backen auf und trete in die Pedale.
Mein Weg führt schnurgerade am Deich entlang, wo mich der Gegenwind erfasst, wo ich ihm ausgeliefert bin. Er nutzt die Straße als Schneise, kämmt dem Deich wild das Gras, bläst mir mitten ins Gesicht. Es ist wie im Albtraum, in dem man sich abstrampelt, um einer Gefahr zu entkommen, aber es gelingt nicht, man kommt nicht von der Stelle. In solchen Momenten hasse ich es, auf dem Dorf zu wohnen. Ich stehe in den Pedalen, krümme mich zusammen, um dem Wind möglichst wenig Widerstand zu bieten, doch ich komme kaum vorwärts. Eine Transportmaschine von Airbus taucht über den Baumwipfeln auf, um irgendwo hinter dem Deich hinter dem hohen Zaun zu landen, dröhnt dicht
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