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Delfinarium: Roman (German Edition)

Delfinarium: Roman (German Edition)

Titel: Delfinarium: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Weins
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über mich hinweg. An der Unterseite des Flugzeugs lese ich das Wort Cargo .
    Ich kann nicht behaupten, dass ich verstehe, was da genau mit Henry und seiner Frau nicht stimmt. Etliche Punkte sind unklar geblieben. Ich weiß so gut wie nichts darüber, was mit der Frau los ist, medizinisch, meine ich. Ist sie verrückt oder behindert? Muss ich vorsichtig sein? Kann ich etwas verkehrt machen? Was soll ich im Notfall tun? Ich habe nicht einmal ein Handy, weil ich es bisher sinnlos fand, Geldverschwendung, als einer der letzten Menschen im Universum. Ich weiß nur, dass ich Ausflüge unternehmen werde, wir haben uns für morgen Nachmittag verabredet. Ich frage mich, wie. Ich kann Susann ja schlecht auf meinen Gepäckträger setzen. Ich habe seit zwei Jahren einen Führerschein, aber kein Auto. Mein Vater hat keins. Zur Schule bin ich früher mit dem Fahrrad gefahren, und wenn ich über den Fluss in die Stadt will, nehme ich den Bus, der durch den Tunnel fährt, oder ich nehme die Fähre.
    Ich muss an Parzival denken, das Buch, das wir im letzten Schuljahr gelesen hatten. Auch wenn ich nicht mehr viel von der Handlung weiß, ich erinnere, dass Parzival die Gralsburg betritt und nicht auf die Idee kommt, den König Anfortas zu fragen, was ihm fehle. Hinterher stellt sich heraus, dass das sein großer Fehler war, dass Parzival sein halbes Leben durch die Gegend irren musste, bloß weil er die richtige Frage nicht gestellt hat. Susann ist bei der Geburt ihres Sohnes ins Koma gefallen, ist irgendwie weg gewesen, sieben Minuten, und jetzt ist sie nicht mehr normal, nicht mehr ganz da. Sie spricht nicht und wirkt abwesend. Aber was bedeutet das? Hätte ich fragen müssen? Ich habe den Eindruck, dass ich nicht darauf komme, dass ich die richtige Frage nicht weiß, nicht hier auf dem Fahrrad und schon gar nicht, wenn ich in diesem Wohnzimmer sitze und Dosenbier trinke. Ich schwitze, mein Atem brennt.
    Was soll’s, denke ich, 15 Euro. Nicht schlecht für den Anfang.
     
    »Ich habe einen neuen Job«, sage ich, als ich zu Hause ins Wohnzimmer trete. Mein Vater sitzt in seinem Sessel und schaut den Apfelbaum an. Die Zweige biegen sich bis auf den ungemähten Rasen. Rasenmähen, das ist eindeutig meine Aufgabe, da gibt es klare Absprachen, die ein Taschengeld mit einbeziehen. Ich war im Herbst zu faul zum Ernten, jetzt bin ich zu faul zum Rasenmähen, und er ist zu schwach und zu versunken in seine Strickjacke und seine Pantoffeln.
    »Gut«, sagt er, ohne mich anzugucken.
    »Willst du wissen, was es ist?«, frage ich.
    »Hm«, macht er, aber ich merke, dass er ganz woanders ist, irgendwo in der Vergangenheit wahrscheinlich, auch so ein König Anfortas. Also lasse ich ihn sitzen und gehe in die Küche, um uns beiden etwas zu essen zu machen.

2. Das größte zusammenhängende Obstanbaugebiet der Erde
    Als wir hierher zogen, hat mich der Name angesprochen. Es hatte wie im Märchen geklungen, wie aus einem Buch von Tolkien oder Astrid Lindgren. Altes Land. Super, hatte ich gedacht, bald lebe ich im Alten Land . Ich rede mit weisen Frauen, reite auf einem Schimmel zur Schule, ein einäugiger Schmied stattet mich der Prophezeiung gemäß mit einem edelsteinbesetzten Schwert aus, und im unterirdischen Schulgewölbe sitze ich in einer Reihe mit Zwergensöhnen und Mädchen mit Pfauenaugen. Als wir dann hierher kamen und ich feststellte, dass das Geheimnis des Alten Landes hauptsächlich aus Obst besteht, aus Plantagen und Gewächshäusern und Trecker fahrenden Apfelmenschen, die düngen und breit sprechen, stellte sich Ernüchterung ein.
    Aus meinem Zimmer habe ich einen Blick auf die Obstbäume im Garten, auf dem Grundstück dahinter steht ein Gewächshaus, und dahinter erstreckt sich der neue Friedhof der Gemeinde, ein Meer aus blank poliertem Marmor. Da ist schon Schluss mit Dorf, dort beginnen die Obstplantagen, militärisch gedrillte Apfelbäume, endlos in Reih und Glied.
    Im Ganzen ist Neuenfelde ein schmaler Streifen Häuser und Höfe, der sich mehrere hundert Meter am hinteren Deich entlangzieht. Vor dem Deich Obstbäume bis zum Ufer des Flusses, auf dem sich die Containerriesen vorbeischieben, hinter dem Dorf Obstbäume, das größte zusammenhängende Obstanbaugebiet der Erde. Eine ganz schöne Umstellung, wenn man mal mitten in der Großstadt gelebt hat.
     
    Ich schaue mir den Rücken von Petra an, die in meinen Platten herumwühlt.
    Sie kommt jetzt öfter vorbei. Wir haben uns angefreundet, weil wir denselben Schulweg teilten.

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