Delfinarium: Roman (German Edition)
und hügelab eine gewundene Landstraße entlang, und ich werde langsamer und langsamer, was mir erst auffällt, als mich ein LKW anhupt. Ich bin fast im Schritttempo gefahren.
Bei einer Haltebucht mit WC kurz vor Wismar halte ich an. Es nützt ja nichts, es bringt mir ja doch nichts. Gerade will ich vor allem meine Ruhe. Ich sitze im Auto und atme vor mich hin. Dann schwinge ich mich aus dem Wagen und gehe zum Abfalleimer hinüber. Ich öffne den Deckel und werfe das Handy, das Petra bezahlt hat, hinein. Ich stelle mir vor, wie es zwischen Schokoriegelverpackungen und Pfandflaschen klingelt. Vielleicht findet es ein dickes Kind, das sich wundert, was ein nigelnagelneues Handy im Müll verloren hat.
Dann fühle ich mich etwas leichter, obwohl es nichts besser macht. Ich schlage die Karte auf und entdecke an der Küste den Ort Rerik. Ich war noch nie in Rerik. In der Schule haben wir mal Sansibar oder der letzte Grund gelesen. Ich erinnere nicht mehr viel, nur, dass sich dort in Rerik ein Mann vor den Nazis versteckt. Außerdem geht es um eine Skulptur von Barlach, Der Lesende Klosterschüler , der vor den Nazis in Sicherheit gebracht werden soll, nach Schweden. Mein Deutschlehrer hatte uns eine Abbildung vom lesenden Klosterschüler fotokopiert. Er schwärmte davon, dass dieser Klosterschüler absolut vergeistigt, konzentriert und versunken aussähe, subversiv für diese Welt verloren. Ich fand, dass er vor allem glubschäugig aussah. Auf jeden Fall spielt die Geschichte in Rerik an der Ostsee. Und bislang war das immer nur ein Name für mich, und spätestens jetzt ist mir klar, was meine erste Etappe sein wird.
In Wismar muss ich abbiegen. An der Ampel kommt hinter mir ein Polizeiwagen zum Stehen. Ich habe Angst, dass mein Wagen schon als gestohlen gemeldet wurde und die Polizisten, die jetzt hinter mir herfahren, aufreizend dicht und langsam, mein Autokennzeichen mit dem im Computer registrierten abgleichen. Ich sitze betont aufrecht hinterm Steuer, man soll mir ansehen, dass ich ein korrekter Staatsbürger und Kraftfahrzeuglenker bin. Der Polizeiwagen bleibt mir durch ganz Wismar hindurch auf der Pelle. Ich kann mich gar nicht auf Wismar konzentrieren. Ich fahre an Häusern mit schönen Hansegiebeln vorbei. Kurz hinter dem Ortsschild bleiben die Polizisten am Straßenrand stehen und machen den Warnblinker an, ich bin kurz irritiert, dann aber stelle ich fest, dass es nichts mit mir zu tun hat.
Ich frage mich, ob ich noch richtig bin. Die Landschaft wird zusehends einsamer und leerer. Ich fühle mich, als würde ich mit meinem Auto durch einen weiten Traum fahren. Ein Serengeti-Land der Träume. Man sitzt als Zuschauer sicher in seinem Wagen und kann das Ganze durchqueren als Gast, als Tourist. Das Gefühl der Fremde. Diese Landschaft scheint von überdimensionierten, wesenhaften Strommasten dominiert, riesige Stahlungetüme, die das Land beherrschen, einer reicht dem nächsten mit seinen Armen aus Stahl die dicken Staffelkabel weiter, mit den Armen auf den Schultern stehen sie da und üben ihre Herrschaft über diese wilde Landschaft aus. Zwischen den Strommasten Birken, weiße Büsche, ewig weite Wiesen.
Rerik liegt auf einer Art Halbinsel. Ich nähere mich dem Ort in einer großen Kurve. Links von mir liegt das Haff, ein zahmes Binnenmeer, mit hohem Schilf und Gräsern am Rand. Es sieht aus wie im Dänemarkurlaub, flache Holzgebäude mit Restaurants und Kiosks und Surfboardverleihern. Ich stelle den Wagen gleich hinterm Ortseingang ab. Ich befinde mich auf einer Landzunge, auf einem dünnen Streifen Land, hinter mir das Haff, vor mir eine flache Düne und dann die Ostsee. Keine Bucht, einfach ein langer Küstenstrich, der rechts von mir zu einer Steilküste ansteigt. Der eigentliche Ort befindet sich ebenfalls rechts, dort sehe ich den Kirchturm und ältere Gebäude, nicht nur diese Feriensiedlungsattrappen aus Holz. Ich stehe am Wasser, Wellen lecken den Sand vor mir nass, kleine, plätschernde Ostseewellen. Ich atme Algenaroma ein. Ich hatte irgendwie die Hoffnung, dass alles von mir abfällt, wenn ich nur am Meer stehe und in die Weite schaue, diese Luft einatme, aber dem ist nicht so. Ich stelle fest, dass meine Schultern schmerzen vom Autofahren, weil ich das Lenkrad so umklammert habe.
Ich starre auf dieses gezähmte Meer hinaus und sehe nichts. Ich denke daran, dass, wenn ich nur weit genug schwimmen würde, irgendwann Skandinavien käme, Schweden und Finnland. Und noch weiter nach Osten liegt
Weitere Kostenlose Bücher