Delfinarium: Roman (German Edition)
Aber dann wird mir klar, worauf sie hinauswill.
»Weitblick«, sage ich.
Schade wirft den Kopf in den Nacken, dass die dünnen roten Haare fliegen.
»Willkommen daheim«, sagt sie, »der Laden gehört meiner Mutter. Welches Zimmer?«
Ich sage ihr die Nummer und sie lächelt.
»Na, dann kann ich dir ja morgen das Frühstück ans Bett bringen.«
»Und dein Vater?«, frage ich.
»Gibt es nicht«, sagt sie und ich frage nicht weiter.
Am Strand gehen wir erst etwas spazieren. Sie zieht ihre Schuhe aus und lässt sie, wo sie steht, im Sand liegen. »Die hole ich später«, sagt sie, als ich fragend gucke. Dann sitzen wir eng nebeneinander im Sand, es wird kühl, weil die Sonne schon sehr tief steht, und mir wird unbehaglich, weil wir uns jetzt eigentlich küssen müssen, weil man das erwartet, wenn man romantisch am Strand entlanggeht. Weil sie es von mir erwarten wird. Und ich habe noch nie gewusst, wie man das macht. Wie man den Schalter umlegt. Wie man den Abstand verkürzt, die Kluft überwindet. Wie man irgendwann aufhört zu reden und handgreiflich wird.
Es ist wie früher im Schwimmbad, man ist zwölf und noch nie vom Dreimeterbrett gesprungen, man steht auf dem Brett und hinter einem hat sich eine Schlange gebildet, kleine Mädchen, ältere Jungs, die johlen, es ist erniedrigend, und einer sagt: »Du darfst nicht nach unten gucken, du darfst nicht nachdenken, du musst einfach den Schritt machen!« Drei Minuten steht man mutterseelenallein vorne an der Kante und blockiert den Verkehr, bevor man wortlos wieder hinunter steigt.
»Und warum bist du nun wirklich hier?«, fragt mich Schade. Sie hat sich vorgebeugt, die Hände auf den Kniescheiben. Sie schaut mich interessiert an. Ich sehe ihren Lippen zu.
»Ich bin auf der Flucht«, sage ich.
»Wovor?«, fragen ihre Lippen.
Ich sage: »Eine Frau. Eine ältere Frau.«
Sie nickt, das glaubt sie mir, die Antwort befriedigt sie.
»Und warum musst du fliehen? Hast du etwas Schlimmes angestellt?«
»Sie ist verheiratet«, sage ich.
»Au«, sagt sie. »Merde.«
Ich sage nichts und sie lässt sich nach hinten auf ihre Ellbogen fallen. Wir haben uns noch immer nicht geküsst. Vielleicht ist es jetzt zu spät, die Stimmung hat sich verändert. Wir schauen dem Ostseewasser dabei zu, wie es türkiser wird, der Himmel oranger.
»Probier mal«, sagt Schade schließlich. Sie hält mir etwas auf ihrer Handfläche hin, kleine schwarze Steine.
»Was ist das?«, frage ich.
»Psychedelische Trüffel. Die habe ich von einem Freund aus Berlin.«
Davon habe ich noch nie gehört, psychedelische Trüffel. Ich blicke in ihr Gesicht, ob sie mich verarschen will. Ich rieche an den Steinchen, sie riechen nach nichts. Schade nimmt drei davon und zerkaut sie krachend. Ich probiere ebenfalls einen. Wenn man sie erst einmal zerbissen hat, schmecken sie pilzig. Oder als würde man Moos kauen. Nicht uninteressant. Muffig, waldig. Wir teilen uns alle Trüffel, die sie in der Hosentasche hat. Eigentlich halte ich nicht so viel von Drogen, aber seltsamer als zuletzt kann es mit diesen Dingern auch nicht werden.
Wir liegen im Sand und der Himmel wandert über unseren Köpfen hin und her. Er führt da oben eine Art Schultheater für uns auf, etwas ungelenk, viel wehende Gewänder, in der Art griechischer Tragödien.
Irgendwann küssen wir uns, es passiert ganz einfach. Ich springe vom Sprungturm, lange bin ich in der Luft, ich frage mich, ob ich jemals unten ankommen werde oder angekommen bin. Ich blicke aufs Meer, das schwarz und unglaublich plastisch geworden ist. Ein weiter Meerraum, dem man seine unverschämte Tiefe ansieht. Ich bin sehr wach jetzt.
»Zu mir oder zu dir?«, fragt mich Schade und ich lache statt einer Antwort.
Wir laufen durch den Ort und Schade trägt ihre Schuhe in der Hand, ohne dass ich gesehen habe, wie sie sie aufgehoben hätte, sie müssen ihr in die Hand geflogen sein, ein wohldressiertes Paar Schuhe. Die Häuser weichen zurück in die Vorgärten, wenn wir nahen, und das Licht der Laternen legt sich appetitlich um ihre Giebel, schmiegt sich in das Laub der Bäume, schmiert sich auf ihre Substanz wie eine Paste auf eine Scheibe Brot, dass man über alle Oberflächen lecken möchte und sich nur noch von Licht ernähren.
Als wir vor dem Weitblick stehen, als sie den Schlüssel in der Hand hat, als wir durch den dunklen Flur nach hinten in den privaten Bereich schleichen, hält mich Schade an, blickt mir von sehr dicht in die Augen und flüstert: »Ich
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