Delhi Love Story
goldener Bemalung. Er zeigt den tanzenden Ganesha. Ich kann mich lange nicht an den Teppich gewöhnen. Dann entdeckt Ma ein Geschäft namens Dilli Haat und wird völlig verrückt. Sie kommt mit einer Wagenladung Spiegel und Kunstgegenstände nach Hause: Ikkat, Bandhini, Madhubani, Banithani und Kalamkari . Mit ihnen dekoriert sie jeden noch freien Platz in der Wohnung – die Wände, Tische, Ecken, Böden, bald leuchten überall psychedelische indische Farben.
Ma badet in ihnen, wird eins mit der Wohnung. Mühelos schafft sie den Übergang von Kaffee zu Schwarztee mit Kardamom, von Kostümen zu bestickten Saris, von Minnesota Public Radio zu Radio Mirchi. Als hätte sie ihre indische Haut all die Jahre aufbewahrt und musste bloß noch hineinschlüpfen, als sie hier ankam.
Mir geht es ganz anders. Ich kann nicht einfach in eine indische Haut schlüpfen – zumindest habe ich keine, die mir passt. Die Mädchen an der Wand rufen in mir keine Erinnerungen oder Gefühle hervor. Ganesha erinnert mich nur an das indische Restaurant in Minnesota, in dem wir manchmal aßen und das uns noch öfter Essen nach Hause lieferte.
Mein Zimmer schütze ich vor Mas Dekorationswut. Meine Wände bleiben weiß. An die neuen Fenster hänge ich meine alten Vorhänge, ihr Braun ist angenehm und langweilig. Auf den Boden kommt mein alter grauer
Teppich und an die Wand immerhin der neue Tennisschläger, den mir Keds geschenkt hat. Zu mehr fühle ich mich nicht in der Lage. Ich stelle meinen alten Laptop mit dem Boundary-Waters-Bildschirmschoner auf, aber er passt auf einmal nicht mehr richtig in mein Zimmer. Ich schlage meinen Wandkalender »Wildes Minnesota« beim Monat Juli mit dem Foto von Coon Rapids auf, aber auch das kommt mir seltsam vor. Waren wir überhaupt jemals in Coon Rapids? Als ich mir mein gerahmtes Foto von einem Roten Kardinal aus unserem Garten ansehe, erscheint es mir unendlich lange her und weit weg. Wie eine Illusion. Als wäre es nie Wirklichkeit gewesen. Ich merke, dass sich meine amerikanische Haut bereits vom Körper gelöst hat. Ich habe sie irgendwo ins Gebüsch geworfen und kann sie nun nicht wieder finden. Und selbst die kleinen Reste von mir, die die letzten beiden Winter in Minnesota überlebt haben, sind jetzt ausgelöscht. In Eden Prairie, Minnesota, ist nichts von mir übrig geblieben.
Und hier gibt es auch keine Spuren von mir. Weder in Roshini oder in der NPS noch in diesem Zimmer mit den weißen Wänden und der Aussicht auf den kahlen Baum. Ich gehöre nirgendwo hin. Ich bin im Niemandsland. Nichts hält mich hier, ich habe keine Sorgen und keine Freuden.
Und dennoch spüre ich, als ich die kahlen weißen Wände und den einsamen dünnen Baum anblicke, einen dumpfen Schmerz in mir aufsteigen.
Das Sonntagsalbum finde ich zwischen all den Dingen, die wir noch nicht ausgepackt haben und vielleicht
nie auspacken werden. Es liegt in einer Kiste im Gästezimmer. Vorsichtig nehme ich es heraus. Ich habe für das dünne Buch eine Auswahl aus einem Berg von Sonntagsbildern getroffen. Ich setze mich aufs Bett und blättere das Buch langsam durch.
Ma beim Pizzabacken in der Küche. Ma schlafend mit offenem Mund. Ma beim Fahrradfahren ohne Helm. Ma mit Schwimmbrille, kurz bevor sie in den Pool fällt. Er machte so gern Fotos von Ma, er überraschte uns beide so gern.
Ich blättere um und sehe mich selbst. Mit vier Jahren, wie ich von einer Rutsche falle. Mit sechs in einem Cowboykostüm und eiskremverschmiertem Gesicht; wieder mit sechs, wie ich kopfüber von einer Schaukel hänge; mit sieben und einem aufgeschlagenen Knie. Schnell blättere ich weiter, ich habe das Album nicht hervorgeholt, um Bilder von mir selbst zu betrachten. Sondern wegen der Fotos auf den folgenden Seiten.
Es sind nicht viele, er ließ sich nicht gerne fotografieren. Sanft streiche ich über die paar Bilder, die ich retten konnte. Papa beim Grillen, Papa und ich mit Sombreros auf den Köpfen, Papa beim Unkrautjäten im Garten, Papa und Ma mit Skiausrüstung.
Dieses letzte Bild sehe ich mir lange an. Es liegt viel Schnee, beide haben Schnee auf den Jacken, in den Haaren, an den Händen. Papa lacht über das ganze Gesicht –ich hatte das Foto gemacht, als er kurz davor war, einen Schneeball zu werfen. Das Datum auf dem Foto ist der 4. März 2004, es ist das Letzte im Album, das letzte Sonntagsbild, das wir je gemacht haben.
Vorsichtig löse ich es aus dem Album und nehme es mit in mein Zimmer.
Neun
Das »große Abenteuer« NPS
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