Delhi Love Story
weiter.
Keds, du verdammter Idiot, denke ich.
Als ich den Hörsaal betrete, ist es zehn nach drei. Ich atme heftig, weil Radha Swamys Chemie-Tutorium am anderen Ende der Schule ist. In einem Moment der Schwäche habe ich alle Vernunft fahren lassen. Jetzt stehe ich am menschenleeren Hintereingang und hole Luft. Wehe, wenn er nicht da drinnen ist, denke ich. Und wehe, wenn er das hier nicht zu schätzen weiß.
Ich atme noch einmal tief durch und drücke die Tür auf. Der Kontrast der grellen Sonne draußen mit dem höhlenartigen Grau-Schwarz nimmt mir für einen Moment die Sicht. Ich blinzele und sehe mich um. Aus den verschiedenen Graustufen werden Sitzreihen, die absteigend um das Pult herum angeordnet sind. Das Pult ist leer.
Ich schließe die Tür und gehe der Lichtquelle entgegen, die ich links vom Pult entdeckt habe. Wo sind denn bloß alle? Irgendjemand muss doch hier sein? Ich höre leise Musik – Fergie oder Beyoncé oder so –, die auch vom Pult zu kommen scheint. Oder ist es doch JLo? Jedenfalls ist es keine geeignete Hintergrundmusik für eine Debatte. Plötzlich fällt mir Nikkis Ausbruch ein. Natürlich. Sie hat ihren Einfluss geltend gemacht und die Vox Pop-Gruppe von hier vertrieben. Irgendwo hier muss die Tanzgruppe sein und vielleicht gerade eine Pause machen. Wenigstens ein Hinweisschild könnten sie aufstellen! Ich gehe drei Stufen hoch zum Podium. Dort steht auf einem Stuhl ein tragbarer CD-Spieler, aus dem immer noch Tanzmusik tönt. Daneben liegt tatsächlich eine hastig hingekritzelte Notiz: Das Vorsprechen für Vox Pop wurde auf Montagnachmittag verschoben. Ich freue mich sogar darüber. Denn nun kann ich Keds sagen, ich hätte es versucht, und kann mit der Sache abschließen. Er wird ja wohl nicht verlangen, dass ich ein zweites Mal hingehe.
Das gedämpfte, schräg einfallende Licht strahlt die Holzbretter unter meinen Füßen an. Das Pult steht erhaben auf einem riesigen Podium. Ich stelle mich in die Mitte und blicke im großen, dunklen Hörsaal umher, sehe die stummen Klappsitze. Ich trete hinter das Pult.
Von hier überblicke ich mein unsichtbares Publikum. Es ist seltsam, wie schwer man auf einem Podium der Illusion der eigenen Bedeutsamkeit und Macht widerstehen kann, wie sehr man dem Eindruck unterliegt, alles
könne doch einen Sinn haben. Man bildet sich ein, irgendjemand würde zuhören und einen Ernst nehmen, wenn man sich hier oben offen zu seinen Gefühlen und Gedanken bekennen würde.
Ich schalte das Mikrofon aus und flüstere etwas hinein. Meine Stimme klingt drängend, zischend, sie verliert sich am Rand des Podiums. Ich räuspere mich, dann halte ich inne.
War das ein Rascheln? War die Tanzgruppe zurückgekommen? Angestrengt lausche ich. Da ist das merkwürdige Geräusch wieder, es klingt, als würden Stühle gerückt. Ich drehe mich um, hinter mir ist nur die große schwarze Wand, die das Podium vom hinteren Teil des Saals trennt. Die Geräuschquelle liegt irgendwo dahinter. Ich gehe zurück zum Rand des Podiums und öffne die Tür in der Trennwand. Dahinter finde ich die beiden, das Mädchen und den Jungen, eng umschlungen auf einem niedrigen Tisch. Der plötzliche Lichteinfall schreckt ihn auf, er setzt sich hin, sein T-Shirt ist verrutscht. Sie hebt den Kopf.
»Ani!«, ruft er. »Ani, warte!«
»Entspann dich, Keds. Es ist doch nur Ani.«
»Aber Nikki –«
»Psst.«
Lange sitze ich im Halbdunkel unter der Treppe der Bibliothek und starre auf ein und dieselbe Seite im Chemiebuch. Dabei zerreiße ich ein Blatt mit Hausaufgaben in immer kleinere Fetzen. Das Display meines Handys leuchtet auf; Keds ruft an. Einmal, zweimal, dreimal. Ich
schalte es aus. Den Schulbus meide ich; stattdessen bitte ich Sumita, mich mitzunehmen.
Kaum betrete ich die Wohnung, klingelt auch schon das Telefon im Flur. Das schrille Klingeln gellt durch die Stille, ich halte mir die Ohren zu. Am ersten Tag in der neuen Wohnung hatte Ma ganz aufgeregt eine Ansage auf den Anrufbeantworter gesprochen. Mit einem Klicken wird sie abgespielt: »Hallo! Isha und Annie sind leider nicht –«
Er hinterlässt eine kurze Nachricht. »Ani, hier ist Keds. Kannst du mich zurückrufen?«
Ich gehe in die Küche, hole mir ein Glas Wasser und nehme ein Paracetamol. Das Telefon klingelt schon wieder.
»Ani, ich bin’s, Keds«, hallt es durch den Flur. »Ruf mich an, okay? Ich bin zu Hause. Oder ruf mich auf dem Handy an. Egal.«
Ich blicke nach draußen auf den dürren Baum. Die Äste ragen
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