Delhi Love Story
Füßen in den Schlamm getreten. Es klebt in grünen, leicht feuchten Klumpen an unseren Schuhen. Nach der zehnten Umrundung des Spielfelds spüre ich nur noch Schmerz. Ich bin triefend nass, meine Socken sind durchweicht und meine Kehle klebt vor lauter Durst zusammen. Aber das sind Kleinigkeiten. Ich muss mich auf meinen Atem konzentrieren, auf die
Haltung, auf die Vorwärtsbewegung, zu der ich meine widerstrebenden Beine zwinge.
Nach 16 Runden geben Karan und Shivam auf, sie gehen zu den anderen und lassen sich ins Gras fallen. Alle, die nicht mehr laufen, sitzen unter einem Baum am Rand des Spielfelds. Nach und nach haben sie aufgegeben. Sie sehen aus, wie ich mich fühle: verbrannt, erschöpft. Sie genießen, dass es vorbei ist. Sie spüren ihre Körper wieder. Ich könnte mich zu ihnen setzen. Aber ich werde weiterlaufen.
Ich blicke zur Sonne. Ihre Hitze strömt zu mir hinunter, entzündet mein Gesicht, meine Augenlider, meine Nasenspitze. Ich sauge die Hitze auf, atme einen neuen Schwall heißer Luft ein und werfe mich wieder nach vorne. Ich spüre, wie ich schneller werde. Es ist merkwürdig, dass dieselbe Hitze, die mich vor ein paar Monaten noch auslaugte, mich nun zu stärken scheint. Ich spüre ganz deutlich die Kraft in meinen Muskeln, als wäre eine Speckschicht weggeschmolzen. Ich scheine mir in den letzten paar Wochen eine dicke Haut aus Willenskraft zugelegt zu haben. Plötzlich kann ich schwerere Gewichte stemmen und weitere Strecken laufen als früher. Ich bin das neueste Mitglied von Vox Pop, ich kann den ganzen Nachmittag draußen in der Hitze Tennis und Basketball spielen – ich bin in beide Mannschaften aufgenommen und habe Keds und Somes besiegt. Irgendwie hat mir die Hitze da durchgeholfen, sie hat den Horizont weggeschoben und ihn mir gleichzeitig näher gebracht. Alles ist jetzt möglich, ohne dass ich weiß, weshalb.
Ich umrunde das entlegene Ende des Spielfelds ein
weiteres Mal und laufe weiter, mit Blick auf die Schule. Das Gebäude erscheint mir viel kleiner und zahmer als am Anfang. Aus der Entfernung sieht es fast aus, als könnte ich auf dem Schuldach sitzend Richtung Sonne reiten.
»Halt durch, Ani!«
Somes steht am Rand und will mich motivieren. Mir gelingt ein gequältes Lächeln. Ani. Es ist seltsam, dass ich mich all die Jahre so gegen diesen Namen gewehrt habe und ihn jetzt doch mag. Damals machte mich der Name zur Außenseiterin, unterstrich, wie braun meine Haut war, drohte, mich zur Immigrantin zu stempeln. Aber jetzt wirkt der Name so passend. Ani. Natürlich. Mein abgekürzter indischer Name, für mein verstümmeltes indisches Ich.
Ich laufe schneller und verkürze die Distanz zu Keds, der vor mir läuft. Nach 19 Runden ist er mir immer noch ein gutes Stück voraus, aber er hält den Kopf nicht mehr so aufrecht, wird langsamer, sein T-Shirt ist tropfnass. Es ist komisch, dass mich dieser Anblick noch vor Kurzem berührt hat und mir jetzt gar nichts mehr ausmacht. Seltsam, dass es gar nicht schwierig war. Wir spielen zusammen Tennis, laufen zusammen, amüsieren uns, sprechen über Hausaufgaben und Kricket und Papa und Nikki und über all die anderen Dinge, die ich früher in mich hineingefressen habe.
Er hört meine Schritte und dreht sich kurz zu mir um. Dann beschleunigt er. Ich senke den Kopf und werde ebenfalls schneller. Ich kann sehen, wie erschöpft er ist. Dann überhole ich ihn.
Als ich die 20. Runde beginne, sind wir Läufer nur
noch zu dritt. Bobs, Keds und ich. Ich wende mein Gesicht der Sonne zu und atme frische Hitze ein. Ich bin bereit für die beiden. Und für alles andere.
Fünfzehn
Am ersten Herbsttag Ende September passiert es. Gerade als ich alles schaffe, mich unbesiegbar fühle. Wie ein Felsbrocken schmettert es mich nieder.
Am Dienstagmorgen kommt direkt nach dem Sportunterricht unsere Englischlehrerin Q ganz aufgeregt in die Klasse und berichtet uns von einer besonderen Gelegenheit: »Ein Theaterworkshop!« Ihre Augen hinter den dicken Brillengläsern funkeln begeistert. »Unter der Leitung eines ehemaligen Schülers der NPS!« Erwartungsvoll blickt sie uns an. »Manche von euch erinnern sich vielleicht an ihn. Er war Präsident von Vox Pop und Leiter der Theatergruppe. Er führte Regie und spielte die Hauptrolle in Othello , womit –«
»Kunal Pradhan?«, flüstert Nikki.
»Kunal Pradhan!«, kreischt Richa und schlägt die Hände vor das Gesicht.
»Kunal wer?«, fragt Keds.
»Weißt du noch, vor vier Jahren?«, antwortet Richa.
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