Delhi Love Story
bewegungslos in die windstille Luft. Das Telefon klingelt zum dritten Mal.
»Ani, könntest du bitte zurückrufen? Ich muss mit dir reden.«
Ich lege die anstehenden Hausaufgaben vor mir auf den Tisch. Es klingelt wieder. Mit Wucht werfe ich ein Buch gegen die Wand. Dumpf landet es auf dem Boden und bleibt zerknittert liegen. Keds legt auf, ohne eine weitere Nachricht zu hinterlassen.
Ich schalte den Computer ein und öffne mein altes E-Mail-Konto bei Yahoo. In der letzten Woche haben sich 54 neue Nachrichten angesammelt. Das meiste ist Junk. Ich lösche eine nach der anderen und entdecke dann
eine als dringend markierte, zwei Tage alte Nachricht von Jaime mit dem Betreff: »RAT!!!«
Ich öffne die Nachricht. Ohne Umschweife erzählt Jaime, dass Brad Anderson und die blöde Ziege Trinity nicht mehr zusammen sind. Jamie schreibt, Brad habe ihr das selbst erzählt: »Ich habe ihn gestern in der Videothek getroffen!!! Er sah unglaublich gut aus, als sei er den ganzen Sommer im Fitnessstudio gewesen!!! Wir haben uns unterhalten!!! Vor einer Minute hat er angerufen und meinte, er habe zwei Karten für das Wolves-Spiel!!! Soll ich mitgehen??????«
Neeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiin! , denke ich. Wieso machst du dich für ihn schon wieder zum Deppen??? Begreifst du es nicht? Er steht NICHT auf dich!!!
Das Paracetamol wirkt nicht; mein Kopf fühlt sich immer noch an, als wäre er in zwei Hälften gespalten. Ich gehe ins Wohnzimmer und schalte den Fernseher ein, wechsele zwischen Wiederholungen von Hindi-Soaps, MTV, Channel V, Nachrichten, Filmen, Dramen in Regionalsprachen, religiösen Beiträgen, Yogasendungen und einer Dokumentation über das Agrarwesen. Dann schalte ich wieder aus.
In meinem Zimmer hole ich mein Handy aus dem Rucksack und schalte es ein. Ich habe zwei neue SMS. Von Keds: »Ani, bitte RUF MICH AN.« Und von Ma: »Heute nacht wird’s spät, warte nicht auf mich, mein schatz.« Ich schalte das Handy wieder aus und werfe mich aufs Sofa. Es ist sechs Uhr abends und ich sitze allein in einer furchtbaren, leeren Wohnung. Ma kommt
bestimmt nicht vor Mitternacht – schon wieder – und Rani hat erst ab sieben oder acht Uhr Zeit. Und selbst wenn sie Zeit hätte – als verstünde sie irgendetwas, als wäre sie eine echte Freundin.
Freund. Ein gefährliches, ein trügerisches Wort. Genauso falsch wie dieses andere Wort: Zuhause. Als gäbe es eines von beiden wirklich.
Ich blicke mich in dem großen, schattigen Raum mit den wilden Farbtupfern um und spüre, wie ein Schluchzen in mir aufsteigt. Ich lege mich hin, mein schmerzender Kopf ruht auf der Armlehne, von der Wand lächeln mich die tanzenden Mädchen mit den hübschen Röcken an. Ich spiele mit dem Gedanken, den Wandbehang mit bloßen Händen herunterzuzerren und das Zimmer und das Gebäude und alles andere gleich mit abzureißen. Vielleicht könnte ich irgendwo unter den Trümmern mein altes Leben finden. Einen Moment lang stelle ich mir vor, wie unser grüner Garten unter dem grellgelben Schutt zum Vorschein kommt, in dem die Kardinäle singen und satte, gesunde Pflanzen wachsen; ich stelle mir vor, wie Papa die Büsche beschneidet und seine Windjacke dabei wie immer offen trägt.
Ein lautes Klingeln durchbricht die Stille, es ist wieder das Telefon im Flur. Ich starre es an und ärgere mich, nicht gleich das Kabel ausgesteckt zu haben. Diesmal will ich es herausziehen, aber ich halte inne, als nach Mas Stimme auf dem Anrufbeantworter ein langes Räuspern ertönt. »Ani? Ani Beta ?« Wie hypnotisiert sehe ich das Telefon an.
»Ani?«
Schnell hebe ich ab. »Dadi!«
Sofort hört sie die Verzweiflung in meiner Stimme und redet beruhigend auf mich ein. Sie sagt, dass sie mich vermisst und von Papa geträumt hat. Dass ich ihm wie aus dem Gesicht geschnitten bin. Und sie sagt, dass sie mich lieb hat.
Ich antworte, dass ich sie auch lieb habe.
Vierzehn
Am ersten Herbsttag Ende September ist die Luft schwer und feucht, kein Blatt regt sich. Die Sonne steigt schnell am Himmel auf und schon vor zehn Uhr morgens sind es dreißig Grad Celsius. Grell wird das Licht von den Fenstern des Schulgebäudes zurückgeworfen und erleuchtet triumphierend den wolkenlosen Himmel.
Mir fällt das kaum auf. Der Sportlehrer Mr Khanna lässt uns im Kreis um das Kricketfeld rennen. Er will unsere Ausdauer testen. Was für einen schönen Tag er sich doch dafür ausgesucht hat.
Das nach wochenlangem Regen dichte und überlange Gras wird unter unseren
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