Delhi Love Story
Märchen glauben. Das bin ich nicht. Nein, irgendetwas muss an jenem Tag in Qs Englischstunde anders gewesen sein, unverhältnismäßig. Die einzige Möglichkeit, das wieder gerade zu rücken, ist, hinzufahren, ihn zu konfrontieren, mein altes Ich und meine Vernunft zurückzugewinnen. Und genau das tue ich jetzt. So einfach ist das.
Trotzdem kann ich nicht schlüssig erklären, wieso ich meine neue Spitzenunterwäsche angezogen habe, wieso ich einen kleinen, herzförmigen Anhänger um den Hals trage, wieso ich meine Lippen geschminkt habe – erst mit rotem Gloss, das ich abwischte, dann mit rosafarbenem, das ich auch abwischte, und dann mit pfirsichfarbenem, das ich wieder abwischte. Oder wieso ich die kleine Parfumflasche aus Mas Kommode genommen und mir Chance auf die Handgelenke, den Hals, die Ohren, die Knie und Ellbogen getupft habe. Dafür habe ich keine Erklärung.
Der Bus biegt um eine scharfe Kurve. Einen Moment
lang scheint mir die Sonne direkt in die Augen. Ich hebe die Hand vor mein Gesicht. Irgendwo in dieser brütenden Stadt steht vielleicht eine langhaarige, schwarzäugige Person an einer anderen Bushaltestelle. Vielleicht blinzelt er auch gerade in die Sonne? Die Sonnenstrahlen, die meine Finger verbrennen, spielen auf seinen Knöcheln; die Sonne, die mich wärmt, strahlt ihn an? In diesem Moment sind wir durch den Sonnenschein verbunden …
Ein Motorrad fährt vorbei. Hinter dem Fahrer sitzt ein Mädchen, es lehnt sich nach vorne und sagt etwas zu ihm. Ich kann nicht wegsehen: Beide lächeln, sie presst sich an seinen Rücken, schlingt ihre Arme um ihn. Würde ich mich je so an Kunal schmiegen? Was für eine dumme Idee. Warum sollte ich das wollen? Trotzdem flattert der Gedanke ruhelos in meinem Magen hin und her.
Eine alte, rostige Schraube kullert auf dem Aluminiumboden des Busses hin und her. Die Strecke ist voller Schlaglöcher; die Schraube vibriert laut auf dem Metall. Sie scheint einem vorgezeichneten Weg zu folgen, immer drei Zentimeter rückwärts und zwei nach rechts. Bald wird sie das kleine Loch im Boden erreichen, durch das ich die Straße sehen kann. Ob sie wohl hindurchfallen wird? Und was dann wohl mit ihr passieren wird?
Als der Bus endlich ankommt, ist es halb zehn. Ich steige als Letzte aus. Meine Beine sind Wackelpudding, als ich das Eingangstor der Universität erreiche. Das Gebäude am anderen Ende der großen Grünflächen mit ihren alten Bäumen sieht historisch und feierlich aus.
Überall reden und lachen Studenten. Was mache ich bloß hier?
Neugierige Blicke treffen mich von allen Seiten. Die der Mädchen sind eher kritisch, die der Jungen interessiert. »Eine Neue!«, ruft jemand hinter mir. »Hey, Erstsemester! Du mit der weißen Bluse! Komm doch mal her!«
Ich laufe schneller, spüre mein Herz klopfen. Die Schritte hinter mir halten mit.
»Hey … Stopp!«
Vor mir weist ein Schild zu den Damentoiletten. Ich laufe hinein und verstecke mich in einer der Kabinen. Eine Ewigkeit scheint zu vergehen. Ich lese die Sprüche an den Wänden.
»Puneeta: Teja liebt dich.«
»Rahul – Ranjna – Rahul – Ranjna – Rahul – Ranjna.«
»Hände weg von Suraj! Er gehört mir.«
»Er liebt mich er liebt mich ER LIEBT MICH!!!!!«
Ein paar Minuten später wage ich mich aus der Kabine. Er ist irgendwo hier in diesem Gebäude, denke ich. Vielleicht nur ein paar Meter weiter, im Raum gegenüber oder im nächsten Stockwerk. Bald werde ich ihn wiedersehen. Ich blicke in den Spiegel über dem Waschbecken und streiche mir mit den Händen durch die Haare. Nicht dass das irgendeine Bedeutung hätte. Er ist einfach nur irgendein blöder Student und ich kehre bald in mein eintöniges Leben zurück.
Plötzlich kommen vier Mädchen herein. Sie tragen Sonnenbrillen und schicke Handtaschen. »Ich glaube nicht, dass ich die Rolle bekomme«, sagt die Kleinste unter
ihnen. Sie trägt hohe Absätze und rotbraunen Nagellack. Sie zieht ihre Haarspange heraus und schlingt die Haare mit schnellen Bewegungen zu einem Knoten.
»Wann erfährst du es?«
»In ein oder zwei Tagen. Aber das Vorsprechen lief wirklich schlecht. Kunal hat die ganze Zeit mit den Augen gerollt.«
»Warum sprichst du nicht nach seinem Seminar über Europäische Literatur mit ihm? Ich glaube, das ist in 15 Minuten zu Ende.«
»Wo ist das denn?«
Die Mädchen drehen sich mit fragenden Gesichtern zu mir um.
»Wer bist du?«, fragt die Kleine.
»In Raum 211«, antwortet die andere achselzuckend.
»Nein, 212.«
»Nein,
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