Delhi Love Story
nur, dass sein Gesicht keine zehn Zentimeter von meinem entfernt ist.
»Nimm zum Beispiel unsere Situation«, fährt er fort. »Du und ich. Wir sitzen hier im Innenhof des Cafés, umgeben von Blumen … das ist doch eine romantische Szenerie, oder?«
Ich kann ihn nicht ansehen. Romantisch?
»Man könnte fast meinen, es sei zu romantisch. Zu viel Symbolik. Zum Beispiel diese Blumen hier in der Vase, so schön und hoffnungsvoll. Und das Sonnenlicht, so leuchtend und heiß, voller Versprechungen. Und der abgelegene, menschenleere Innenhof. All die Gedanken, die uns vielleicht durch den Kopf gehen, all die Möglichkeiten, die ein Mädchen und ein Junge beim verbalen Vorspiel haben …«
Ich hole hörbar Luft. Er lächelt.
»Erstaunlich, wenn man einen Schritt zurücktritt und darüber nachdenkt, oder? Du, ich, die romantische Szenerie … all die Symbole … Was wird wohl als Nächstes geschehen? Das alles muss doch irgendwohin führen? Es muss doch etwas bedeuten?«
Ich schlucke. Ich habe keine Stimme mehr, sie ist irgendwo in meinem Hals verloren gegangen.
»Andererseits könnte man sagen, dass Symbole gar nichts bedeuten, dass alles nur eine Farce ist und wir nur Schauspieler in einem Stück sind, die ihre Rollen spielen.
Nichts von dem, was hier impliziert wird, muss wahr sein. Stimmt’s?«
»Stimmt«, presse ich heraus.
»Aber wie kannst du dir da sicher sein? Vielleicht verbirgt sich hier ja eine Halbwahrheit? Nämlich die, dass wir zwei Menschen sind, die gemeinsam an einem Tisch sitzen, deren Beine sich fast berühren, die scheinbar über das Theater sprechen, aber eigentlich an etwas ganz anderes denken? Ist das hier vielleicht mehr als eine rein intellektuelle Unterhaltung?«
Ich frage mich, ob mein Gesicht so glühend aussieht, wie es sich anfühlt.
»Ich behaupte nicht, dass es so ist …«, fährt er mit sanfter Stimme fort. »Aber nehmen wir mal an, das hier sei ein Teil eines Bühnenstücks. Wir unterhalten uns auf Basis eines vorgegebenen Texts über das Theater – hast du Annie Hall gesehen?«
Dem plötzlichen Themenwechsel kann ich nicht folgen. Annie Hall?
»Erinnerst du dich an die Szene auf dem Balkon? Alvy und Annie tauschen Nettigkeiten aus, und er macht einige eingebildete Bemerkungen über Fotografie als die neue Kunstform, über ästhetische Kategorien und so weiter, während man in den Untertiteln lesen kann, was er wirklich denkt, nämlich …«
»Nämlich?«
Er grinst, sein Blick gleitet über meinen Körper. »Ich frage mich, wie sie nackt aussieht … Ah, hier kommt der Chai .«
Versteinert sehe ich zu, wie Ramesh das voll beladene
Tablett abstellt. Ich greife nach der Teetasse, verbrenne mir den Mund.
»Au!«, ruft Kunal, »das ist bestimmt heiß!«
Ich sehe weiter nur Ramesh nach, der zurück in die Cafeteria geht. Als ich mich zu Kunal umdrehe, bietet er mir das Tablett mit dem Gebäck an. »Probier mal ein Éclair«, schlägt er vor. »Sie sind hier die Spezialität.«
Ich nehme eines und beiße hinein.
»Lecker, oder?«
Das Éclair könnte aus Beton und Kies sein, es wäre mir egal. »Lecker«, sage ich.
»Habe ich ja gesagt. Also, wo war ich stehen geblieben? Ach ja, sexuelle Spannung. Merkst du, wie sie abgenommen hat, als Ramesh herauskam, wie wir sie verdrängt haben, indem wir über den Chai und das Éclair sprachen? So hat die Heldin Zeit, sich zu sammeln, und im Publikum wird eine Erwartungshaltung aufgebaut. Wenn der Held jetzt etwas tun oder sagen würde, dass die Spannung nicht nur zurückholt, sondern noch steigert, zum Beispiel, dass Schokolade ein Aphrodisiakum ist, und er der Heldin sagen würde, dass sie einen Schokoladefleck am Mund hat, wobei der Fleck ein weiteres erotisches Symbol ist –«
Mit der Hand wische ich den Fleck von meinem Mund.
»Lass das! Was ist, wenn der Held ihn wegküssen wollte?«
Ich schiebe meinen Stuhl zurück.
»Hey, was ist los?«
Ich ignoriere sein Grinsen und gehe so würdevoll davon, wie es in der Situation eben möglich ist. Idiot, denke
ich. Obwohl ich die Tränen mit aller Gewalt zurückzuhalten versuche, bahnen sie sich ihren Weg.
Sechzehn
Ich finde Rani in der Wohnung der Bajajs, in der kleinen Speisekammer neben der Küche. Reis- und Mehlsäcke stehen herum; ein Tischventilator sorgt lautstark für frische Luft. Mit einem Bügeleisen in der Hand kniet Rani vor einem niedrigen Tisch, auf dem ein Hemd ausgebreitet ist. Schweiß läuft ihre Wangen hinunter, die Bluse klebt an ihrem Körper.
»Was um
Weitere Kostenlose Bücher