Delia und der Sohn des Häuptlings
angegeben hat, ist er noch zu jung.“
Delia funkelte den Kommandanten an. „Vor allem weiß ich nicht, wofür er bestraft werden soll. Ist es ein Verbrechen, dass er das Fort vor dem Überfall der Indianer warnte?“
„Ach, erzähl mir nichts. Das war bestimmt nicht seine Absicht. Ich kenne diese Rothäute gut genug. Sie führen immer etwas Böses im Schilde.“
Delia war so wütend, dass sie gar nichts sagen konnte. Linda kam der Freundin zu Hilfe. „Du lässt den Jungen also laufen, Pop?“
„Wo denkst du hin! Nein, er geht mit dem Transport in den Westen.“
Delia war so verdattert, dass ihr Messer und Gabel aus der Hand fielen. „Tiefer in den Westen? Aber was soll er denn da?“
„Er kommt in eine Reservation“, sagte der Kommandant.
„Was ist denn das?“ wollte jetzt auch Linda wissen.
„Ein fest umrissenes Gebiet, in dem sich die Indianer aufhalten dürfen, in dem sie leben dürfen, wie sie wollen und wie sie es gewöhnt sind. Schön langsam werden wir alle Indianer in solchen Gebieten zusammentreiben. Dann haben sie ihren Frieden und wir endlich auch.“
„Ihr wollt sie einsperren“, sagte Delia, „für immer!“
„Na, na, na! Nur nicht übertreiben! Sie kriegen Weideplätze und Flüsse, in denen sie fischen dürfen … Ich wünschte allemal, die armen Leute in Europa hätten es so gut.“
„Und ich dachte“, sagte Delia, „Amerika wäre das Land der Freiheit! So hats’s mir mein Vater immer erzählt. Aber ihr seid ja schlimmer als die Fürsten bei uns zu Hause. Die beanspruchen bloß das, was ihnen seit Hunderten von Jahren gehört hat. Ihr dagegen nehmt den Indianern alles weg und vertreibt sie.“
Der Kommandant ließ sich nicht erschüttern. „Soviel ich weiß, wollen doch auch viele Europäer den Fürsten ihre Macht und ihr Land wegnehmen. In Frankreich ist das schon geschehen, da hatten sie ihre große Revolution. Da mussten die Adeligen auf die Guillotine marschieren, und dann wurde die Republik ausgerufen.“
„In Frankreich, überhaupt in ganz Europa, kämpfen die Menschen um die Freiheit, um die Gerechtigkeit“, sagte Delia. „Vielleicht ist dabei auch manches geschehen, was nicht hätte sein dürfen. Aber was ihr den Indianern antut — nein, das ist wirklich zu schlimm!“
„Hör nur auf, deine Rothäute zu verteidigen! Die sind ja halbe Tiere. Hast du sie schon mal gesehen, wenn sie betrunken sind?“
„Habe ich“, sagte Delia. „und ich habe mich geschämt. Aber nicht nur für die Indianer. Auch für die Weißen, die ihnen den Alkohol gegeben haben, um sie betrunken zu machen und dann leicht übers Ohr hauen zu können.“
Jetzt war der Kommandant nahe daran, die Fassung zu verlieren. Sein rundes Gesicht färbte sich rot.
Bevor es zu einem Ausbruch kommen konnte, sagte seine Frau hastig: „Das ist nun wirklich kein Tischgespräch! Still, ich will jetzt kein Wort mehr von dem allem hören.“
Delia wollte noch etwas sagen, aber Linda stieß sie unter dem Tisch gegen das Schienbein; das brachte sie zur Besinnung. Sie presste die Lippen fest zusammen.
Der Kommandant knurrte noch etwas. Aber laut zu reden wagte er nicht mehr. Bei seinen Leuten gelang es ihm zwar immer, sich Respekt zu verschaffen, doch nicht bei seiner Frau. Sie war ihm über, das wusste er.
Nach dem Abendessen gingen Delia und Linda sofort zu Bett. Sie durften natürlich nicht einschlafen, aus Angst, sie könnten sonst die günstigste Stunde verpassen.
Sie hielten die Augen fest geschlossen, als Lindas Mutter noch einmal kam, um nach ihnen zu schauen. Aber kaum war sie aus dem Zimmer, da fingen sie wieder an, zu flüstern.
„Wenn bloß alles gut geht“, wisperte Linda.
„Mach dir keine Sorgen“, sagte Delia. „Wir tun ja nichts Unrechtes.“
„Ich werde dich sehr vermissen“, seufzte Linda.
„Ich komme wieder zurück, vielleicht schon in ein paar Tagen. Der Häuptling der Iowanokas wird bestimmt einsehen … Ja, ich bin ganz sicher, dass er mich ziehen lassen wird, wenn ich es ihm nur richtig erkläre.“ Delia verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte zur Decke. „Und dann werde ich wieder wie eine Weiße leben, und ich werde meinen Vater suchen können und …“
Eine ganze Weile überließ sie sich ihren Wachträumen, bis schwere Schritte unten im Hof, Hackenschlagen und Waffenklirren verkündeten, dass die Zeit der ersten Wachablösung gekommen war. Es war jetzt elf Uhr.
Linda stand auf, öffnete leise, leise die Tür, schlich sich ins Elternschlafzimmer
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