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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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Schultern zu küssen. Dann lasse ich zu, dass er mir das T-Shirt ganz über den Kopf zieht, mich ins helle Sonnenlicht legt und einfach nur ansieht. Beim ersten Mal zittere ich. Ich verspüre die ganze Zeit den Drang, die Hände vor meinem Brustkorb zu verschränken, um meine Brüste zu bedecken, sie zu verstecken. Mir wird plötzlich bewusst, wie blass ich in der Sonne aussehe und wie viele Muttermale ich auf der ganzen Brust habe, und er denkt bestimmt, ich sei hässlich oder missraten.
    Aber dann haucht er: »Wie schön«, und als sich unsere Blicke treffen, weiß ich, dass er es wirklich und ernsthaft so meint.
    An diesem Abend sehe ich im Badezimmerspiegel zum ersten Mal in meinem Leben kein mittelmäßiges Mädchen. Mit zurückgeworfenen Haaren, meinem Nachthemd, das eine Schulter entblößt, und leuchtenden Augen glaube ich zum ersten Mal, was Alex gesagt hat. Ich bin schön.
    Aber nicht nur ich. Alles sieht schön aus. Im Buch Psst steht, dass die Deliria die Wahrnehmung verändert, das Urteilsvermögen ausschaltet, die rationalen Fähigkeiten beeinträchtigt. Aber es steht nicht darin, dass Liebe die ganze Welt in etwas Größeres verwandelt. Sogar der Müll, der in der Hitze schimmert, ein riesiger Haufen aus Schrott, schmelzendem Plastik und stinkendem Zeug, wirkt seltsam und geheimnisvoll wie etwas Außerirdisches, das auf die Erde gebracht wurde. Die Möwen, die auf dem Dach des Rathauses hocken, sehen im Morgenlicht aus, als wären sie dick mit weißer Farbe überzogen worden. Sie leuchten geradezu vor dem blassblauen Himmel, und ich habe den Eindruck, noch nie in meinem Leben etwas so Reines, Klares und Hübsches gesehen zu haben. Regengüsse sind unglaublich: herabfallende Glasscherben, die Luft voller Diamanten. Der Wind wispert Alex’ Namen und das Meer wiederholt ihn. Beim Anblick schwankender Bäume denke ich ans Tanzen. Alles, was ich sehe und berühre, erinnert mich an Alex und deswegen ist alles, was ich sehe und berühre, vollkommen.
    Im Buch Psst steht auch nicht, wie die Zeit einem davonrast.
    Die Zeit fliegt. Sie springt. Sie rinnt mir wie Wasser durch die Finger. Jedes Mal, wenn ich in die Küche komme und sehe, dass der Kalender schon wieder einen Tag weiter umgeklappt wurde, weigere ich mich, es zu glauben. Übelkeit wächst in meinem Magen, ein bleiernes Gefühl, das jeden Tag schwerer wird.
    Noch dreiunddreißig Tage bis zum Eingriff.
    Noch zweiunddreißig Tage.
    Noch dreißig.
    Und dazwischen Schnappschüsse, Momentaufnahmen, einzelne Augenblicke. Alex, der mir Schokoladeneis auf die Nase schmiert, nachdem ich mich beklagt habe, mir sei so heiß; das laute Summen der Bienen, die im Garten über uns kreisen; eine ordentliche Reihe aus Ameisen, die lautlos über die Reste unseres Picknicks marschiert; Alex’ Finger in meinen Haaren; seine Armbeuge unter meinem Kopf; Alex, der flüstert: »Ich wünschte, du könntest bei mir bleiben«, während ein weiterer Tag am Horizont ausblutet, rot und rosa und golden; wie wir in den Himmel starren und in den Wolken Formen sehen: eine Schildkröte mit Hut, einen Maulwurf, der eine Gurke trägt, einen Goldfisch, der ein Kaninchen jagt, das um sein Leben rennt.
    Schnappschüsse, Momentaufnahmen, einzelne Augenblicke: so zerbrechlich, schön und hoffnungslos wie ein einsamer Schmetterling, der gegen heraufziehenden Wind anflattert.

siebzehn
    Unter Wissenschaftlern ist umstritten, ob Verlangen ein Symptom eines mit Amor deliria nervosa infizierten Organsystems ist oder eine Voraussetzung für die Krankheit selbst. Einigkeit herrscht jedoch darüber, dass Liebe und Verlangen eine symbiotische Beziehung eingehen, was bedeutet, dass das eine ohne das andere nicht existieren kann. Verlangen ist ein Feind der Zufriedenheit; Verlangen ist Krankheit, ein fieberhafter Geist. Kann jemand, der begehrt, als gesund betrachtet werden? Das Wort »begehren« selbst suggeriert einen Mangel, Verarmung, und genau das ist Verlangen: geistige Verarmung, ein Defekt, ein Fehler. Glücklicherweise kann das heutzutage korrigiert werden.
    Aus: Die Ursachen der Amor deliria nervosa und ihre Auswirkungen auf
die kognitiven Fähigkeiten von Dr. Phillip Berryman, 4. Auflage
    D er August macht es sich in Portland bequem, bläst seinen heißen und stinkenden Atem über alles. Tagsüber ist es unerträglich auf den Straßen, die Sonne

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