Delirium
kreischend aufs Meer zutaumelten â genau so klingt sein Lachen. »Oh, das ist kein Gerücht«, sagt er. »Das war im Februar. Den Alarm hat übrigens Thomas selbst ausgelöst. Wenn er da mit drinsteckte, war es natürlich gut möglich, dass sie bereits sechs, sieben Stunden Vorsprung hatte.«
Als er das Wort sie sagt, scheinen die Mauern um mich herum einzustürzen. Ich trete schnell einen Schritt zurück und stoÃe gegen die Wand. Das könnte sie sein , denke ich und eine schreckliche Sekunde lang bin ich enttäuscht und habe dafür zugleich Schuldgefühle. Dann rufe ich mir ins Gedächtnis, dass sie vielleicht gar nicht hier ist â und dass da sonst wer geflohen sein kann, jede weibliche Sympathisantin oder Unruhestifterin. Aber die Benommenheit lässt trotzdem nicht nach. Ich bin bis oben hin angefüllt mit Nervosität, Angst und einer verzweifelten Sehnsucht, alles gleichzeitig.
»Was ist denn mit der los?«, fragt Frank. Seine Stimme klingt entfernt.
»Luft«, stoÃe ich hervor. »Es ist die Luft hier drinnen.«
Frank lacht erneut, dieses unangenehme keckernde Geräusch. »Du findest, die Luft sei schlecht?«, sagt er. »Sie ist paradiesisch verglichen mit dem Zellentrakt.« Das scheint ihn zu freuen und es erinnert mich an eine Diskussion, die ich vor ein paar Wochen mit Alex geführt habe, als er den Nutzen des Heilmittels in Frage gestellt hat. Ich habe gesagt, ohne Liebe könne es auch keinen Hass geben und ohne Hass keine Gewalt. Hass ist nicht das Gefährlichste , sagte er. Sondern Gleichgültigkeit.
Alex beginnt zu reden. Seine Stimme ist leise und immer noch beiläufig, aber sie hat einen kraftvollen Unterton: die Art Stimme, in die StraÃenhändler verfallen, wenn sie einen dazu bringen wollen, eine Schachtel zerquetschte Beeren oder ein kaputtes Spielzeug zu kaufen. Hör zu, ich mach dir einen guten Preis, kein Problem, du kannst mir trauen. »Lass uns nur eine Minute rein. Länger wird es nicht dauern: eine Minute. Siehst ja, dass sie bereits eine Höllenangst hat. Ich musste ihretwegen den ganzen Weg hier rauskommen, an meinem freien Tag und so. Eigentlich wollte ich zum Pier gehen, vielleicht ein bisschen angeln. Was ich sagen will, ist: Wenn ich sie nach Hause bringe und sie nicht geradegebogen ist ⦠na ja, verstehst du, dann ist es ziemlich wahrscheinlich, dass ich sie noch mal hier rausschleppen muss. Und ich habe nur noch ein paar freie Tage und der Sommer ist fast vorbei â¦Â«
»Wozu der ganze Aufwand?«, fragt Frank und zeigt mit dem Kopf auf mich. »Wenn sie Probleme macht, gibtâs doch einen einfacheren Weg, sie in Ordnung zu bringen.«
Alex lächelt verkniffen. »Ihr Vater ist Steven Jones, der Laborchef. Er will keinen vorgezogenen Eingriff, keinen Ãrger, keine Gewalt oder Theater. Macht keinen guten Eindruck, verstehst du.«
Das ist eine gewagte Lüge. Wenn Frank nach meinem Ausweis fragt, sind Alex und ich geliefert. Ich bin nicht sicher, was die Strafe für unerlaubtes Eindringen in die Grüfte ist, aber bestimmt nichts Gutes.
Frank scheint sich zum ersten Mal für mich zu interessieren. Er mustert mich von oben bis unten, als wäre ich eine Grapefruit, die er im Supermarkt auf ihren Reifegrad hin untersucht, und einen Moment lang sagt er nichts.
Dann steht er schlieÃlich auf und hängt sich das Gewehr über die Schulter. »Also gut«, sagt er, »fünf Minuten.«
Als er sich an der Tastatur neben der Tür zu schaffen macht â er muss einen Code eintippen und dann seine Handfläche auf eine Art Fingerabdruck-Scanner legen â, streckt Alex die Hand aus und nimmt meinen Ellbogen.
»Los gehtâs«, sagt er mit barscher Stimme, als hätte mein kleiner Anfall seine Geduld strapaziert. Aber seine Berührung ist sanft und seine Hand warm und beruhigend. Ich wünschte, er könnte sie dort liegen lassen, aber bereits nach einer Sekunde lässt er mich wieder los. In seinem Blick steht klar und deutlich eine Bitte: Sei stark. Wir habenâs fast geschafft. Sei nur noch ein kleines bisschen länger stark.
Die Schlösser an der Tür öffnen sich mit einem Klicken. Frank stemmt sich fest mit der Schulter dagegen und sie geht gerade weit genug auf, dass wir uns in den Flur dahinter durchquetschen können. Zuerst Alex, dann ich, dann Frank. Der Gang ist so eng, dass wir im Gänsemarsch gehen
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