Delirium
er, seine Stimme ein Krächzen, und die Angst wird noch gröÃer, überwältigt mich.
»Was ist los?«, frage ich wieder. Ich gehe durch den Gang auf ihn zu. Es kommt mir plötzlich vor, als wäre er sehr weit weg, und als Frank hinter mir etwas sagt, klingt seine Stimme auch entfernt.
»Da hat sie gesessen«, sagt er. »Nummer hundertachtzehn. Die Verwaltung hat noch nicht die Kohle rausgerückt, um die Wände zu flicken, deshalb lassen wirâs erst mal so, wieâs ist. Ist nicht viel Geld übrig für Ausbesserungen â¦Â«
Alex sieht mich an. All seine Beherrschung und sein Selbstbewusstsein sind verschwunden. Seine Augen lodern vor Wut oder vielleicht Schmerz; sein Mund ist zu einer Grimasse verzerrt. Mein Kopf ist voller Lärm.
Alex hält die Hand hoch, als hätte er vor, mich aufzuhalten. Unsere Blicke begegnen sich und irgendetwas blitzt zwischen uns auf â eine Warnung oder eine Entschuldigung vielleicht â und dann dränge ich mich an ihm vorbei in Zelle 118.
Sie ist fast in jeder Hinsicht identisch mit den Zellen, in die ich kurz durch die winzigen Flurfenster gesehen habe: grober Zementboden; eine Toilette mit Rostflecken und ein Eimer Wasser, in dem sich mehrere Kakerlaken langsam drehen; ein schmales Eisenbett mit einer papierdünnen Matratze, das jemand in die Mitte des Raumes gezerrt hat.
Aber die Wände.
Die Wände sind mit Wörtern bedeckt â dicht an dicht. Nein. Nicht mit Wörtern. Es ist ein einziges Wort aus fünf Buchstaben, das immer und immer wieder geschrieben wurde, auf jede zur Verfügung stehende Oberfläche.
Liebe.
In groÃen Schwüngen oder krakelig in die Ecken gequetscht; in eleganter Schrift oder massiven Blockbuchstaben; eingemeiÃelt, gekratzt, geritzt, als würden die Wände langsam in Lyrik übergehen.
Und auf dem Boden, zusammengerollt neben einer Wand, liegt eine matte Silberkette, an der immer noch ein Anhänger befestigt ist: ein rubinbesetzter Dolch, dessen Klinge zu einem kleinen Knubbel verschlissen ist. Der Anhänger meines Vaters. Die Kette meiner Mutter.
Meine Mutter .
Die ganze Zeit über, während jeder einzelnen Sekunde meines Lebens, in der ich sie für tot hielt, war sie hier: kratzte, grub, meiÃelte, zwischen den Steinmauern eingeschlossen wie ein lang begrabenes Geheimnis.
Ich habe plötzlich das Gefühl, wieder in meinem Traum zu sein und an einer Klippe zu stehen, während sich der Boden unter mir auflöst und unter meinen FüÃen zerrinnt wie in einer Sanduhr. Und dann ist der gesamte Boden verschwunden und ich stehe auf einer Kante aus nichts weiter als Luft und werde gleich fallen.
»Es ist furchtbar, siehst du? Guck dir an, was die Krankheit mit ihr gemacht hat. Wer weiÃ, wie viele Stunden sie damit zugebracht hat, über diese Wände zu krabbeln wie eine Ratte.«
Frank und Alex stehen hinter mir. Franks Wörter scheinen von einer Lage Stoff gedämpft zu werden. Ich trete einen Schritt weiter vor in die Zelle, plötzlich von einem Lichtstrahl angezogen, der sich wie ein langer goldener Finger aus einem Loch in der Wand ausstreckt. DrauÃen müssen die Wolken aufgebrochen sein; durch das Loch sehe ich auf der anderen Seite der steinernen Festung das glitzernde Blau des Presumpscot River und Blätter, die sich bewegen und übereinanderschieben, eine Lawine aus Grün und Sonne, und ich rieche den Duft nach wilden, wachsenden Dingen. Die Wildnis.
So viele Stunden, so viele Tage hat sie immer und immer wieder dieselben fünf Buchstaben gemalt: dieses seltsame und furchterregende Wort, das Wort, dessentwegen sie hier mehr als zehn Jahre eingesperrt war.
Und das Wort, das ihr schlieÃlich geholfen hat zu entkommen. An einer Wand hat sie das Wort so oft in so riesiger Schrift nachgezogen â LIEBE , jeder Buchstabe so groà wie ein Kind â und so tief in den Stein gemeiÃelt, bis der untere Teil des B einen Tunnel bildete und sie hier rauskam.
d r eiundz w anzig
Nahrung dem Körper, Milch für die Knöchelein, Eis zum Blutstillen und
einen Magen aus Stein.
Volkstümlicher Segenswunsch
S ogar nachdem das eiserne Tor ins Schloss gefallen ist und die Grüfte hinter uns zurückbleiben, fühle ich mich noch immer von allen Seiten eingeschlossen. Auf meiner Brust lastet ein fürchterlicher Druck und ich bekomme nach wie vor kaum Luft
Ein alter Gefängnisbus mit keuchendem Motor
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