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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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bringt uns weg von der Grenze nach Deering. Von da aus gehen Alex und ich zu Fuß ins Stadtzentrum von Portland, jeder auf einer Seite des Bürgersteigs. Alle paar Schritte dreht er den Kopf, um mir einen Blick zuzuwerfen, öffnet und schließt den Mund, als würde er unhörbare Wörter sprechen. Ich weiß, dass er sich Sorgen um mich macht und wahrscheinlich damit rechnet, dass ich jeden Moment zusammenbreche, aber ich bringe es nicht über mich, ihn anzusehen oder etwas zu sagen. Ich habe die Augen starr geradeaus gerichtet und meine Füße bewegen sich wie von selbst. Abgesehen von dem fürchterlichen Schmerz in meiner Brust und meinem Magen fühlt sich mein Körper ganz taub an. Ich spüre weder den Boden unter mir noch den Wind, der durch die Bäume fegt und über mein Gesicht streicht; auch nicht die Wärme der Sonne, die trotz allem durch die schrecklichen schwarzen Wolken gebrochen ist und die Welt eigenartig grün anstrahlt, als wären wir unter Wasser.
    Ich erinnere mich, wie ich zum allerersten Mal gerannt bin, als ich klein war und meine Mutter gestorben war – als ich dachte, sie sei gestorben –, und ich mich am Ende der Congress Street, einer Straße, auf der ich mein ganzes Leben lang gespielt hatte, hoffnungslos verirrte. Ich bog um eine Ecke, stand vor der Reinigung Bubble and Soap und wusste plötzlich nicht mehr, wo ich war und ob es rechts- oder linksrum nach Hause ging. Nichts sah aus wie sonst. Alles sah zerbrechlich und verzerrt aus, als wäre ich in einem Spiegellabyrinth gefangen.
    So fühle ich mich auch jetzt. Gleichzeitig verloren und wiedergefunden und wieder verloren. Und jetzt weiß ich, dass meine Mutter irgendwo in dieser Welt, in der Wildnis jenseits des Zauns, lebt und atmet und schwitzt und sich bewegt und denkt. Ich frage mich, ob sie an mich denkt, und der Schmerz geht tiefer, verschlägt mir gänzlich den Atem, so dass ich stehen bleiben und mich mit einer Hand auf dem Bauch vorbeugen muss.
    Wir sind immer noch nicht auf der Halbinsel, nicht weit entfernt von Brooks Street 37, wo die Häuser durch breite, ungepflegte Rasenstücke und heruntergekommene Gärten voller Müll voneinander getrennt werden. Trotzdem sind Leute auf der Straße, unter ihnen ein Mann, den ich auf den ersten Blick als Aufseher erkenne: Sogar jetzt, kurz vor Mittag, hängt ihm ein Megafon um den Hals und er hat einen Holzknüppel um die Hüfte geschnallt. Alex muss ihn auch bemerkt haben. Er bleibt ein paar Schritte von mir entfernt, sieht prüfend auf die Straße und versucht unbeteiligt zu wirken, aber er murmelt mir zu: »Kannst du weitergehen?«
    Ich muss mich durch den Schmerz zurückkämpfen. Er strahlt in meinen ganzen Körper aus und hämmert bis in meinen Kopf. »Glaub schon«, stoße ich hervor.
    Â»In die Gasse da links. Los.«
    Ich richte mich auf, so gut ich kann, und humple in die Gasse zwischen zwei größeren Gebäuden. In der Mitte der Gasse stehen ein paar blecherne Mülltonnen nebeneinander, die vor Fliegen summen. Der Gestank ist ekelhaft, wie vorhin in den Grüften, aber ich lasse mich trotzdem zwischen ihnen zu Boden sinken, dankbar für das Versteck und die Möglichkeit, mich zu setzen. Sofort lässt das Hämmern in meinem Kopf nach. Ich lehne den Kopf an die Ziegelsteine hinter mir und spüre, wie die Welt schwankt, ein Schiff mit gekappten Tauen.
    Kurz danach gesellt sich Alex zu mir, hockt sich vor mich und streicht mir die Haare aus dem Gesicht. Es ist das erste Mal heute, dass er mich berühren kann.
    Â»Es tut mir leid, Lena«, sagt er und ich weiß, dass er es ernst meint. »Ich dachte, du würdest gern Bescheid wissen.«
    Â»Zwölf Jahre«, sage ich einfach. »Zwölf Jahre lang dachte ich, sie sei tot.«
    Eine Weile sitzen wir schweigend da. Alex reibt kreisförmig über meine Schultern, Arme und Knie – eigentlich überall, wo er hinkommt, als wollte er unbedingt Körperkontakt mit mir halten. Ich wünschte, ich könnte die Augen schließen und zu Staub und nichts verweht werden, spüren, wie sich all meine Gedanken auflösen und wie die Samen einer Pusteblume vom Wind davongetragen werden. Aber seine Hände bringen mich immer wieder zurück: in die Gasse, nach Portland und in eine Welt, die plötzlich aufgehört hat, Sinn zu ergeben.
    Sie ist irgendwo da draußen, atmet, hat Durst, isst, läuft,

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