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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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schwimmt. Unmöglich, auch nur in Betracht zu ziehen, einfach so weiterzuleben, eine unmögliche Vorstellung, zu schlafen, mir die Laufschuhe zuzubinden, Carol beim Abwasch zu helfen oder sogar mit Alex im Haus zu liegen, während ich weiß, dass sie lebt: dass sie da draußen ist, so weit von mir entfernt wie ein Sternbild am Himmel.
    Warum ist sie nicht zu mir gekommen? Der Gedanke ist so schnell und klar wie ein elektrischer Stromschlag und bringt den sengenden Schmerz zurück. Ich presse die Augen zusammen, lasse den Kopf nach vorn sinken und bete, dass es vorbeigeht. Aber ich weiß nicht, zu wem ich beten soll. Plötzlich fallen mir keine Wörter ein, kann ich mich an nichts erinnern außer daran, dass ich als kleines Kind in der Kirche war und zusah, wie die Sonne hinter den bunten Glasfenstern aufstrahlte und dann verblasste, zusah, wie all das Licht erstarb und nichts zurückließ als matte Scheiben aus farbigem Glas, die minderwertig und dürftig aussahen.
    Â»Hey. Sieh mich an.«
    Die Augen zu öffnen ist unglaublich anstrengend. Alex ist ganz verschwommen, obwohl er nicht weiter als dreißig Zentimeter von mir entfernt hockt.
    Â»Du hast bestimmt Hunger«, sagt er sanft. »Komm, ich bring dich nach Hause, okay? Kannst du laufen?« Er rückt ein Stück zurück, damit ich Platz habe, aufzustehen.
    Â»Nein.« Es klingt heftiger als beabsichtigt und Alex sieht erschrocken aus.
    Â»Du kannst nicht laufen?« Eine kleine Falte entsteht zwischen seinen Augenbrauen.
    Â»Nein.« Es kostet mich große Anstrengung, in normaler Lautstärke zu sprechen. »Ich meine, dass ich nicht nach Hause gehen kann. Auf keinen Fall.«
    Alex seufzt und reibt sich die Stirn. »Wir könnten eine Weile zur Brooks Street gehen, ins Haus. Und wenn es dir besser geht …«
    Ich unterbreche ihn. »Du kapierst es nicht.« Ein Schrei steigt in mir auf, ein schwarzes Insekt, das durch meine Kehle krabbelt. Alles, was ich denken kann, ist: Sie haben es gewusst. Sie haben es alle gewusst – Carol und Onkel William und vielleicht sogar Rachel – und trotzdem haben sie mich die ganze Zeit in dem Glauben gelassen, dass sie tot war. Sie haben mich in dem Glauben gelassen, dass sie mich verlassen hatte. Sie haben mich in dem Glauben gelassen, dass ich es verdient hätte. Ich bin plötzlich voller weiß glühender Wut: Wenn ich sie zu Gesicht bekomme, wenn ich nach Hause gehe, werde ich mich nicht zurückhalten können. Ich werde das Haus abfackeln oder einreißen, Brett für Brett. »Ich will mit dir abhauen. In die Wildnis. Worüber wir neulich gesprochen haben.«
    Ich erwarte, dass Alex sich freut, aber stattdessen wirkt er nur müde. Er sieht blinzelnd weg. »Hör zu, Lena, es war wirklich ein langer Tag. Du bist k.o. Du hast Hunger. Du kannst nicht klar denken …«
    Â»Und ob ich klar denken kann.« Ich rappele mich auf, damit ich nicht so hilflos aussehe. Ich bin auch auf Alex wütend, obwohl ich weiß, dass es nicht seine Schuld ist. Aber die Wut peitscht unkontrolliert in mir herum und wird immer stärker. »Ich kann nicht hierbleiben, Alex. Nicht mehr. Nicht nach … nicht nach dieser Sache.« Meine Kehle verkrampft sich, als ich erneut den Schrei hinunterschlucke. »Sie haben es gewusst, Alex. Sie haben es gewusst und mir nie gesagt.«
    Er richtet sich ebenfalls auf, langsam, als täte es ihm weh. »Das weißt du nicht genau«, sagt er.
    Â»Doch, ich weiß es«, beharre ich und es stimmt. Tief in mir drin weiß ich es. Ich muss daran denken, wie meine Mutter sich über mich gebeugt hat, sehe ihr blasses Gesicht über mir schweben, als sie mich weckte, höre ihre Stimme, die mir leise ins Ohr sprach – Ich liebe dich. Vergiss das nicht. Das können sie uns nicht nehmen –, das traurige kleine Lächeln, das ihre Lippen umspielte. Sie wusste es auch. Sie muss gewusst haben, dass sie sie abholen und an diesen fürchterlichen Ort bringen würden. Und nur eine Woche später saß ich in einem kratzenden schwarzen Kleid vor einem leeren Sarg, in der Hand einen Haufen Orangenschalen, an denen ich saugte, und versuchte die Tränen zurückzuhalten, während alle, denen ich vertraute, eine feste, glatte Wand aus Lügen um mich herum aufbauten (»Sie war krank«; »Das bewirkt die Krankheit«; »Selbstmord«). In Wirklichkeit war ich diejenige, die an jenem

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