Delirium
wir aus dem System gelöscht. Einfach weg. Biep! Als hätte es uns nie gegeben. Wenigstens können wir darauf bauen, dass uns niemand in die Wildnis folgt. Es wird keine Razzien geben. Niemand wird nach uns suchen. Denn sonst müssten sie zugeben, dass es möglich ist, aus Portland rauszukommen, dass die Invaliden wirklich existieren.
Wir werden nichts weiter sein als Geister, Spuren, Erinnerungen und â da die Geheilten ihren Blick fest auf die Zukunft gerichtet haben und auf die vielen, immer gleichen Tage, die vor ihnen liegen â bald noch nicht mal mehr das.
Da Alex dann nicht länger nach Portland reinkann, müssen wir so viele Lebensmittel wie möglich mitnehmen, auÃerdem Kleider für den Winter und alles andere, worauf wir nicht verzichten können. Die Invaliden in den Siedlungen teilen sich in der Regel ihre Vorräte. Trotzdem sind der Herbst und der Winter in der Wildnis immer hart, und nachdem Alex jahrelang in Portland gelebt hat, ist er nicht gerade ein meisterhafter Jäger und Sammler, sagt er.
Wir vereinbaren, uns um Mitternacht im Haus zu treffen, um weiter zu planen. Ich werde den ersten Schwung Habseligkeiten mitbringen: mein Fotoalbum, eine Mappe mit Nachrichten, die Hana und ich in der zehnten Klasse in Mathe ausgetauscht haben, und auÃerdem alles, was ich an Lebensmitteln aus dem Lagerraum des Stop-N-Save schmuggeln kann.
Es ist fast drei, als wir uns trennen und ich mich auf den Weg nach Hause mache. Die Wolken sind aufgebrochen und dazwischen ist der blassblaue Himmel eingewebt wie ausgeblichene, zerrissene Seide. Die Luft ist warm, aber der Wind riecht schon leicht nach Herbst, nach Kälte und Rauch. Bald werden all die sanften Grüntöne in der Landschaft zu Rot- und Orangetönen abbrennen; und dann werden auch die abbrennen und im Winter karg, schwarz und brüchig werden. Und ich werde weg sein â irgendwo da drauÃen zwischen den schmächtigen zitternden Bäumen, von Schnee eingeschlossen. Aber Alex wird bei mir sein und wir werden in Sicherheit sein. Wir werden Hand in Hand spazieren gehen und uns bei helllichtem Tag küssen und uns so sehr lieben, wie wir wollen, und niemand wird je versuchen uns auseinanderzubringen.
Trotz allem, was heute passiert ist, bin ich ruhiger denn je, als hätten mich die Worte, die Alex und ich zueinander gesagt haben, in einen schützenden Umhang gehüllt.
Seit über einem Monat war ich nicht mehr regelmäÃig laufen. Bis vor kurzem hatte Carol es mir noch verboten. Aber sobald ich nach Hause komme, rufe ich Hana an und schlage ihr vor, dass wir uns wie üblich am Sportplatz treffen, und sie lacht nur.
»Ich wollte gerade anrufen und dich dasselbe fragen.«
»Zwei Dumme â¦Â«, sage ich, gerade als ihr Gelächter einen Moment im Rauschen untergeht, das durch den Hörer dröhnt, als sich ein Zensor irgendwo in Portland vorübergehend in unser Gespräch einschaltet. Das ewig kreisende Auge, das ständig alles überwacht. Einen Augenblick bohrt sich Wut durch meinen Körper, aber sie vergeht schnell wieder. Bald werde ich vollständig und für immer von der Bildfläche verschwunden sein.
Ich hatte gehofft, es aus dem Haus zu schaffen, ohne Carol zu begegnen, aber sie kommt mir auf dem Weg zur Tür entgegen. Sie war wie immer in der Küche, wo sie ihren Kreislauf aus Kochen und Putzen endlos wiederholt.
»Wo warst du denn den ganzen Tag?«, fragt sie.
»Bei Hana«, antworte ich automatisch.
»Und jetzt gehst du schon wieder?«
»Nur laufen.« Vorhin hatte ich gedacht, ich würde ihr ins Gesicht springen oder sie umbringen, wenn ich sie je wiedersähe. Aber als ich sie jetzt ansehe, fühle ich mich vollkommen taub, als wäre sie eine bemalte Plakatwand oder eine Fremde, die im Bus an mir vorbeifährt.
»Um halb acht gibtâs Abendessen«, sagt sie. »Ich möchte, dass du rechtzeitig zu Hause bist, um den Tisch zu decken.«
»Alles klar«, erwidere ich. Mir kommt der Gedanke, dass diese Taubheit das ist, was sie und alle Geheilten ständig verspüren: als wäre da eine dicke, dämpfende Glasscheibe zwischen einem selbst und allen anderen. Fast nichts dringt hindurch. Fast nichts spielt eine Rolle. Es heiÃt, bei dem Heilmittel ginge es um Glück, aber jetzt wird mir klar, dass das nicht stimmt und noch nie gestimmt hat. Es geht um Angst: Angst vor Schmerz, Angst vor Verletzung, Angst,
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