Delirium
und ich möchte unbedingt, dass er es noch mal sagt.
Seine Stimme ist unwahrscheinlich sanft. Seine Augen sind warm und lichtgesprenkelt und ihre Farbe ist wie die Sonne, die an einem warmen Herbstabend wie schmelzende Butter durch die Bäume flieÃt.
»Und ich liebe dich auch.« Seine Finger fahren über meinen Unterkiefer, berühren kurz meine Lippen. »Das solltest du wissen. Das musst du wissen.«
Da geschieht es.
Hier, zwischen zwei ekelhaften Mülltonnen in irgendeiner schäbigen Gasse, während die ganze Welt um mich herum zerbricht und Alex diese Worte sagt, verschwindet ganz plötzlich all die Angst, die ich mit mir herumschleppe, seit ich gelernt habe zu sitzen, zu stehen, zu atmen, seit man mir gesagt hat, dass in mir drin irgendetwas Falsches, Verdorbenes und Krankes stecke, irgendetwas, das man unterdrücken müsse, seit man mir gesagt hat, dass ich immer nur einen Herzschlag davon entfernt sei, beschädigt zu werden. Dieses Etwas â das Innerste meines Herzens, das Innerste meines Selbst â streckt und reckt sich noch weiter, entfaltet sich und gibt mir das Gefühl, stärker zu sein denn je.
Ich öffne den Mund und sage: »Ich liebe dich auch.«
Es ist seltsam, aber nach diesem Moment in der Gasse verstehe ich plötzlich die Bedeutung meines Namens, den Grund, warum meine Mutter mich ursprünglich Magdalena genannt hat, und die Bedeutung der alten biblischen Geschichte von Joseph und wie er Maria Magdalena verlassen hat. Ich verstehe, dass er sie aus einem einzigen Grund verlassen hat. Damit sie gerettet werden konnte, auch wenn es ihn umbrachte, sie alleinzulassen.
Er hat sie aus Liebe verlassen.
Ich glaube, meine Mutter hatte vielleicht schon bei meiner Geburt das Gefühl, dass sie eines Tages dasselbe tun müsste. Das ist wohl einfach ein Teil davon, Menschen zu lieben: Man muss Dinge zurücklassen. Manchmal muss man sogar die Menschen selbst zurücklassen.
Alex und ich sprechen über all die Dinge, die ich zurücklassen werde, um mit ihm in die Wildnis zu gehen. Er will absolut sicher sein, dass ich weiÃ, was mich erwartet. Nach Ladenschluss bei der Fat Cats Bakery haltmachen und die restlichen Bagels und Cheddar-Brötchen für einen Dollar das Stück kaufen; drauÃen am Pier sitzen und den kreischenden Möwen dabei zusehen, wie sie über meinem Kopf kreisen; lange Läufe an den Farmen vorbei, wenn der Tau jeden einzelnen Grashalm schimmernd einfasst; der gleichmäÃige Rhythmus des Meeres, der Portland wie ein Herzschlag erfüllt; die schmalen KopfsteinpflasterstraÃen im alten Hafen, die Läden voller bunter, hübscher Kleider, die ich mir nie leisten könnte.
Das Einzige, worum es mir leidtut, sind Hana und Grace. Der Rest dieser Stadt kann sich meinetwegen in nichts auflösen: seine glänzenden, dürren falschen Türme und die blinden Schaufensterfronten und all die vor sich hin starrenden, gehorsamen Leute, die sich mit gesenktem Kopf noch mehr Lügen anhören, wie Tiere, die freiwillig zur Schlachtbank gehen.
»Wenn wir zusammen weggehen, gibt es nur dich und mich«, wiederholt Alex immer wieder, als wollte er wirklich sichergehen, dass ich mir sicher bin. »Es gibt kein Zurück. Niemals.«
Und ich sage: »Das ist alles, was ich will. Nur du und ich. Für immer.«
Ich meine es vollkommen ernst. Ich habe noch nicht mal Angst. Jetzt, wo ich weiÃ, dass ich ihn habe â dass wir uns haben â, fühle ich mich, als müsste ich niemals wieder vor irgendetwas Angst empfinden.
Wir einigen uns darauf, Portland in einer Woche zu verlassen, genau neun Tage vor dem Termin meines Eingriffs. Es macht mich nervös, den Tag unserer Abreise so weit rauszuschieben â ich würde am liebsten einfach auf den Grenzzaun zurennen und am helllichten Tag darüber hinwegstürmen â, aber Alex beruhigt mich und sagt, es sei wichtig, abzuwarten.
In den letzten paar Jahren hat er die Grenze nur ein paarmal überquert. Es ist zu gefährlich, öfter hin- und herzugehen. Aber nächste Woche will Alex vor unserer endgültigen Flucht zweimal rüber â ein beinahe selbstmörderisches Risiko, aber er meint, es sei notwendig. Sobald er bei der Arbeit und an der Uni fehlt, wird auch seine Identität ungültig gemacht â obwohl sie streng genommen noch nie wirklich gültig war, da sie von der Widerstandsbewegung stammte.
Und dann werden
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