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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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Ich hätte nie gedacht, dass ich in der Lage bin, meine Tante anzulügen – ich hätte nie gedacht, dass ich überhaupt lügen kann –, und wenn ich daran denke, wie knapp ich einem stundenlangen Verhör durch die Aufseher entgangen bin, würde ich am liebsten auf und ab hüpfen und die Faust hochreißen. Heute kann mir keiner was. Und es sind nur noch ein paar Minuten bis zur Bucht. Mein Herz schlägt wieder schneller, als ich daran denke, wie ich den grasbedeckten Abhang hinabschlittern und Alex sehen werde, dessen Silhouette sich vor den letzten, blendenden Sonnenstrahlen abzeichnet – als ich an das einzelne Wort denke, das er in mein Ohr gehaucht hat. Grau .
    Ich rase die Baxter Street entlang, die sich den letzten Kilometer nach Back Cove hinunterschlängelt. Und dann bleibe ich abrupt stehen. Die Gebäude sind hinter mir zurückgeblieben und von vereinzelten baufälligen Schuppen auf beiden Seiten der rissigen und schadhaften Straße ersetzt worden. Dahinter neigt sich ein kurzer Streifen aus hohem, von Unkraut durchsetztem Gras zu der kleinen Bucht hinab. Das Wasser ist ein riesiger Spiegel, den der Himmel rosa und golden färbt. Genau in diesem einen Augenblick, in dem ich um die Kurve biege, gibt die Sonne – ein Bogen aus reinem Gold über dem Horizont – ihre letzten blitzenden Sonnenstrahlen ab, macht die Dunkelheit des Wassers zunichte, taucht alles für den Bruchteil einer Sekunde in Weiß und verschwindet dann, versinkt und nimmt das Rosa, das Rot und den Purpur aus dem Himmel mit sich, auf dessen ausgeblutetem Grund nichts als Dunkelheit zurückbleibt.
    Alex hatte Recht. Es war großartig – einer der schönsten Sonnenuntergänge, die ich je gesehen habe.
    Einen Moment kann ich mich nicht rühren oder irgendetwas anderes tun, als einfach nur keuchend und mit starrem Blick dazustehen. Dann überkommt mich Benommenheit. Ich bin zu spät. Die Aufseher müssen sich in der Zeit geirrt haben. Es ist inzwischen bestimmt nach halb neun. Selbst wenn Alex irgendwo an dieser sanft geschwungenen Bucht auf mich warten sollte, sind meine Aussichten, ihn zu finden und es vor der Ausgangssperre nach Hause zu schaffen, gleich null.
    Meine Augen brennen und die Welt vor mir verschwimmt, Farben und Formen vermischen sich. Ich glaube schon, dass ich weine, und vor lauter Schreck vergesse ich alles – ich vergesse Enttäuschung und Frust, vergesse, wie ich mir Alex am Strand vorgestellt habe, vergesse den Gedanken an seine Haare, die die ersterbenden Sonnenstrahlen reflektieren wie blitzendes Kupfer. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal geweint habe. Es ist Jahre her. Ich wische mir mit dem Handrücken über die Augen und mein Blick wird wieder klar. Es ist nur Schweiß, stelle ich erleichtert fest; ich schwitze, der Schweiß läuft mir in die Augen. Trotzdem weicht das bleierne Gefühl nicht aus meinem Magen.
    Ich bleibe ein paar Minuten mit gespreizten Beinen über dem Fahrrad stehen und umklammere den Lenker, bis ich mich etwas beruhigt habe. Ein Teil von mir würde am liebsten sagen: Scheiß drauf, sich auf den Sattel setzen und den Berg hinunter aufs Wasser zufliegen, während mir der Wind die Haare zerzaust – scheiß auf die Ausgangssperre, scheiß auf die Aufseher, scheiß auf alles. Aber ich kann nicht; ich könnte es nicht; ich könnte es niemals. Ich habe keine Wahl. Ich muss nach Hause.
    In einem unsicheren Kreis wende ich mein Fahrrad und fahre die Straße wieder hinauf. Jetzt, nachdem mein Adrenalinspiegel gesunken ist, fühlen sich meine Beine an, als wären sie aus Eisen, und nach nicht mal fünfhundert Metern bin ich schon außer Atem. Diesmal halte ich bewusst nach Aufsehern, Polizei und Patrouillen Ausschau.
    Auf dem Nachhauseweg rede ich mir ein, dass es so das Beste ist. Ich muss verrückt sein, im Halbdunkel herumzurasen, nur um mich mit irgendeinem Typen am Strand zu treffen. Außerdem gibt es doch für alles eine Erklärung: Er arbeitet in den Labors und hat sich vermutlich am Tag der Evaluierung aus irgendeinem völlig harmlosen Grund reingeschlichen – um aufs Klo zu gehen oder seine Wasserflasche aufzufüllen.
    Und ich sage mir, dass ich mir das wahrscheinlich sowieso nur eingebildet habe – die Botschaft, das Treffen. Wahrscheinlich sitzt er irgendwo in seiner Wohnung und bereitet seine Seminare vor. Wahrscheinlich hat er die

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