Delirium
unterhalten, dass Willows Eltern beide gefeuert worden sind. Eine Woche später heiÃt es, dass sie zu einem entfernten Verwandten ziehen mussten. Offenbar wurden ihre Scheiben immer wieder mit Steinen eingeworfen und über die ganze Seite ihres Hauses wurde groà SYMPATHISANTEN geschrieben. Das ergibt alles keinen Sinn, denn es war bekannt, dass Mr und Mrs Marks darauf gedrängt hatten, man solle bei ihrer Tochter den Eingriff trotz des Risikos früh durchführen, aber wie meine Tante sagt: So verhalten sich Leute, wenn sie Angst haben. Alle haben Panik davor, dass die Deliria irgendwie in gröÃerem Ausmaà ihren Weg nach Portland findet. Alle wollen eine Epidemie vermeiden.
Die Familie Marks tut mir natürlich leid, aber so liegen die Dinge nun mal. Es ist wie mit den Aufsehern: Man ist möglicherweise nicht so begeistert von den Patrouillen und Personenkontrollen, aber da man ja weiÃ, dass das alles nur der eigenen Sicherheit dient, ist es unmöglich, sich nicht kooperativ zu verhalten. Und es klingt vielleicht schrecklich, aber lange denke ich nicht über Willows Familie nach. Es gibt einfach zu viele Highschool-Abschlussformulare abzuheften und nervöse Energie zu verarbeiten, SchlieÃfächer auszuräumen und letzte Arbeiten zu schreiben und Leute, von denen man sich verabschieden muss.
Hana und ich finden kaum Zeit, gemeinsam zu laufen. Wenn wir es tun, halten wir uns in stiller Ãbereinkunft an unsere alten Strecken. Es wundert mich, dass sie den Nachmittag bei den Labors nie wieder erwähnt. Aber Hanas Verstand ist immer sehr sprunghaft und jetzt ist sie besessen von einer Grenzverletzung im Norden, die angeblich auf das Konto der Invaliden geht. Ich erwäge noch nicht einmal, wieder zu den Labors zu gehen, nicht eine einzige Sekunde. Ich beschäftige mich mit allem und jedem auÃer den immer noch offenen Fragen über Alex â was mir nicht einmal so schwerfällt. Inzwischen kann ich kaum noch glauben, dass ich einen Abend lang durch die StraÃen von Portland geradelt bin und sowohl Carol als auch die Aufseher angelogen habe, nur um mich mit ihm zu treffen. Schon am nächsten Tag kam es mir vor wie ein Traum oder ein Trugbild. Ich muss vorübergehend verrückt geworden sein: Mein Hirn war vom Laufen in der Hitze durcheinandergeraten.
Bei der Entlassungszeremonie am letzten Schultag sitzt Hana drei Reihen vor mir. Als sie auf dem Weg zu ihrem Platz an mir vorbeigeht, greift sie nach meiner Hand â drückt zweimal lang, zweimal kurz â, und als sie sich setzt, kippt sie den Kopf nach hinten, so dass ich sehen kann, was sie mit Filzstift oben auf ihre Abschlussmütze geschrieben hat: GOTT SEI DANK ! Ich muss mir das Lachen verkneifen und sie dreht sich um und sieht mich mit einem gespielt strengen Blick an. Wir sind alle ganz ausgelassen und ich habe mich den Mädchen der St.-Anne-Schule nie so nah gefühlt wie an diesem Tag â wie wir alle in der Sonne schwitzen, die wie ein übertriebenes Lächeln auf uns herabstrahlt, uns mit den Abschlussbroschüren Luft zufächeln, versuchen nicht zu gähnen oder die Augen zu verdrehen, während Schulleiter McIntosh irgendwas von »Erwachsensein« und »unserem Eintritt in die Gemeinschaftsordnung« faselt, wie wir uns gegenseitig anstoÃen und an den Kragen unserer kratzigen Roben zerren, um ein bisschen Luft abzukriegen.
Unsere Familien sitzen auf weiÃen Plastikklappstühlen unter einer cremeweiÃen Zeltplane, an der lauter Flaggen flattern: die Schulflagge, die Stadtflagge, die Staatsflagge, die amerikanische Flagge. Sie klatschen höflich für jede Absolventin, die auf die Bühne geht, um ihre Urkunde entgegenzunehmen. Als ich dran bin, lasse ich den Blick auf der Suche nach meiner Tante und meiner Schwester über das Publikum schweifen, aber ich habe solche Angst davor, zu stolpern und zu stürzen, während ich meinen Platz auf der Bühne einnehme und mir Schulleiter McIntosh die Urkunde überreicht, dass ich nichts weiter sehe als Farben â Grün, Blau, WeiÃ, ein Durcheinander aus rosa und braunen Gesichtern. Im Rauschen der klatschenden Hände kann ich keine einzelnen Geräusche ausmachen. Nur Hanas Stimme, laut und deutlich wie eine Glocke: »Halleluja, Halena!« Das ist unser spezieller Anfeuerspruch, den wir vor Leichtathletikwettkämpfen und Arbeiten immer gerufen haben, eine Kombination aus unseren beiden
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