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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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berühren, zucke ich zurück, aus seiner Reichweite. Sein Gesicht nimmt einen harten Ausdruck an, als hätte er eine Entscheidung getroffen. »Pass auf. Ich bin nie geheilt worden. Mir wurde nie eine Partnerin zugeteilt oder jemand für mich ausgewählt oder so was. Ich war noch nicht mal bei der Evaluierung.«
    Â»Unmöglich.« Ich kriege das Wort kaum raus, ein Flüstern. Der Himmel kreist über mir, lauter Blau-, Rosa- und Rottöne, die durcheinanderwirbeln, bis es aussieht, als würde ein Teil des Himmels bluten. »Unmöglich. Du hast die Narbe.«
    Â» Eine Narbe«, verbessert er mich, etwas sanfter jetzt. »Einfach nur eine Narbe. Nicht die Narbe.« Dann dreht er den Kopf und lässt mich einen Blick auf seinen Hals werfen. »Eine kleine Narbe, ein umgekehrtes Dreieck. Leicht nachzumachen. Mit einem Skalpell, einem Taschenmesser, irgendetwas.«
    Ich schließe erneut die Augen. Die Wellen steigen um mich herum und von der Bewegung, diesem Heben und Senken, werde ich mich wirklich gleich übergeben, direkt hier im Wasser. Ich würge das Gefühl hinunter, versuche die Erkenntnis zurückzudrängen, die hinten an meinen Verstand klopft und droht mich zu überwältigen. Ich öffne die Augen und krächze: »Wie …?«
    Â»Du musst das verstehen, Lena. Ich vertraue dir. Begreifst du das?« Er sieht mich so durchdringend an, dass ich seine Augen wie eine Berührung spüren kann, und ich halte den Blick abgewandt. »Ich hatte nicht vor … ich wollte dich nicht anlügen.«
    Â»Wie?«, wiederhole ich, lauter jetzt. Irgendwie bleibt mein Gehirn an dem Wort lügen hängen und vollführt eine endlose Schleife: Es gibt keine Möglichkeit, die Evaluierungen zu vermeiden, außer wenn man lügt. Es gibt keine Möglichkeit, den Eingriff zu vermeiden, außer wenn man lügt. Man muss lügen.
    Einen Augenblick schweigt Alex und ich glaube schon, er wird kneifen und mir nicht mehr erzählen. Beinahe wünschte ich, es wäre so. Ich will unbedingt die Zeit zurückdrehen, zu jenem Moment zurückkehren, bevor er meinen Namen in diesem eigenartigen Tonfall ausgesprochen hat, zurück zu jenem triumphierenden, aufwogenden Gefühl, als ich ihn geschlagen habe, zurück zu diesem Gefühl von Glück und Freiheit. Wir machen noch ein Wettrennen, zum Strand. Wir treffen uns morgen und werden versuchen, den Fischern am Hafen ein paar frische Krebse abzuschwatzen.
    Aber dann spricht er weiter. »Ich bin nicht von hier«, sagt er. »Ich meine, ich bin nicht in Portland geboren. Nicht direkt.« Er spricht mit diesem Tonfall, den alle benutzen, wenn sie kurz davor sind, einen auseinanderzureißen. Sanft – sogar freundlich –, als würde die Nachricht einfach dadurch, dass man mit einer einschläfernden Stimme spricht, besser werden. Tut mir leid, Lena, aber deine Mutter war eine gequälte Frau. Als würde man so die unterschwellige Gewalt nicht wahrnehmen.
    Â»Wo kommst du her?« Ich muss eigentlich nicht fragen. Ich weiß es bereits. Die Erkenntnis hat mich überrollt, überwältigt, ist über mir zusammengeschlagen. Aber ein kleiner Teil von mir glaubt, dass es, solange er es nicht ausspricht, auch nicht wahr ist.
    Seine Augen sind unbewegt auf meine gerichtet, aber er macht eine Kopfbewegung nach hinten – hin zur Grenze, jenseits der Brücke, zu diesem endlos sich bewegenden Gewirr aus Zweigen und Blättern, Ranken und verschlungenen, wachsenden Dingen. »Von dort«, sagt er oder vielleicht glaube ich auch nur, dass er es sagt. Seine Lippen bewegen sich kaum. Aber die Bedeutung ist klar.
    Er kommt aus der Wildnis.
    Â»Ein Invalide«, sage ich. Es kommt mir vor, als scheuerte das Wort an meiner Kehle. »Du bist ein Invalide.« Ich gebe ihm eine letzte Chance, es zu leugnen.
    Aber das tut er nicht. Er zuckt nur leicht zusammen und sagt: »Das Wort habe ich schon immer gehasst.«
    Wie ich so dastehe, wird mir noch etwas klar: dass es kein Zufall war, wenn Carol sich immer über mich lustig machte, weil ich noch an die Invaliden glaubte, wenn sie immer den Kopf schüttelte, ohne sich die Mühe zu machen, von ihrem Strickzeug aufzusehen – tick, tick, tick, stießen die Nadeln aneinander, aufblitzendes Metall –, und sagte: »Wahrscheinlich glaubst du auch noch an Vampire und Werwölfe?«
    Vampire, Werwölfe und Invalide: Dinge, die sich

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