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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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in dich verbeißen, dich zerreißen. Tödliche Dinge.
    Ich habe plötzlich furchtbare Angst und verspüre einen starken Druck in der Magengrube und zwischen den Beinen, und einen verrückten und lächerlichen Moment lang bin ich sicher, dass ich gleich pinkeln muss. Der Leuchtturm auf Great Diamond Island geht an, legt einen breiten Streifen auf das Wasser, einen riesigen, anklagenden Finger. Ich fürchte von seinem Strahl erfasst zu werden, fürchte, er könne in meine Richtung weisen und dass ich dann das Dröhnen der staatlichen Hubschrauber höre und die Megafon-Stimmen der Aufseher, die schreien: »Illegale Aktivität! Illegale Aktivität!« Der Strand sieht hoffnungslos und furchtbar weit entfernt aus. Ich weiß gar nicht, wie wir so weit rausgekommen sind. Meine Arme fühlen sich schwer und nutzlos an und ich muss an meine Mutter denken, daran, wie sich ihre Jacke langsam mit Wasser vollsog.
    Ich hole tief Luft, versuche meinen Verstand davon abzuhalten, sich zu drehen, versuche mich zu konzentrieren. Niemand kann wissen, dass Alex ein Invalide ist. Ich selbst wusste es ja auch nicht. Er sieht normal aus, hat die Narbe an der richtigen Stelle. Niemand kann unser Gespräch belauscht haben.
    Eine Welle hebt sich und bricht an meinem Rücken. Ich stolpere nach vorn. Alex streckt die Hand aus und packt mich am Arm, damit ich nicht das Gleichgewicht verliere, aber gerade als eine weitere Welle über uns hinwegrauscht, reiße ich mich los. Ich schlucke Salzwasser, spüre, wie mir das Salz in den Augen brennt, und vorübergehend kann ich nichts sehen.
    Â»Lass das«, stottere ich. »Wag ja nicht, mich anzufassen.«
    Â»Lena, ich schwöre, ich wollte dich nicht verletzen. Ich wollte dich nicht belügen.«
    Â»Warum tust du das?« Ich kann nicht geradeaus denken, kann kaum atmen. »Was willst du von mir?«
    Â»Was ich will …?« Alex schüttelt den Kopf. Er sieht ernsthaft verwirrt aus – und auch verletzt, als wäre ich diejenige, die etwas falsch gemacht hat. Einen Augenblick flackert Sympathie in mir auf. Vielleicht sieht er das in meinem Gesichtsausdruck, diesen Bruchteil einer Sekunde, in dem ich meine Abwehrhaltung fallenlasse, denn in diesem Augenblick wird seine Miene sanfter und seine Augen leuchten wie Flammen, und obwohl ich kaum wahrnehme, wie er sich bewegt, hat er den Abstand zwischen uns plötzlich überwunden, legt mir seine warmen Hände auf die Schultern – Finger, die so warm und stark sind, dass ich beinahe aufschreie – und sagt: »Lena, ich mag dich, okay? Das war’s. Das ist alles. Ich mag dich.« Seine Stimme ist so leise und hypnotisch, als würde er singen. Ich muss an Raubtiere denken, die sich lautlos von Bäumen fallen lassen; ich muss an riesige Katzen mit glühenden bernsteinfarbenen Augen denken, genau wie seine.
    Und dann stolpere ich rückwärts, schwimme von ihm weg, mein T-Shirt und meine Shorts sind schwer vom Wasser, mein Herz hämmert schmerzvoll gegen meine Brust und mein Atem kratzt in meiner Kehle. Ich stoße mich vom Boden ab und schiebe mich mit den Armen vorwärts, halb rennend, halb schwimmend. Mit meiner vollgesogenen Kleidung komme ich nur zentimeterweise vorwärts, so dass ich das Gefühl habe, mich durch Sirup zu bewegen. Alex ruft meinen Namen, aber ich habe zu große Angst davor, mich umzudrehen und zu sehen, ob er mir folgt. Es ist wie in einem dieser Albträume, in denen etwas hinter einem her ist, man aber nicht nachsehen kann, was es ist. Alles, was man hört, ist sein Atem, der immer näher kommt. Man spürt, wie sein Schatten hinter einem aufragt, aber man ist wie gelähmt. Man weiß, dass man jeden Augenblick spüren wird, wie sich einem eisige Finger um den Hals legen.
    Das schaffe ich nie, denke ich. Ich schaffe es nie bis zurück. Irgendwas kratzt über mein Schienbein und ich bilde mir ein, dass die Bucht um mich herum voller schrecklicher Unterwasserdinge ist, Haie und Quallen und giftige Aale, und obwohl ich weiß, das ist nur die Panik, würde ich mich am liebsten einfach gehenlassen und aufgeben. Der Strand ist noch so weit weg und meine Arme und Beine sind so schwer.
    Alex’ Stimme wird vom Wind hinweggepeitscht und klingt immer weiter entfernt, und als ich schließlich den Mut aufbringe, über meine Schulter zurückzublicken, sehe ich ihn neben den Bojen auf und ab wippen. Ich bin weiter

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