Delirium
»Folgen«, S.36). Daraufhin lag meine Schwester ununterbrochen im Bett und tat nichts weiter, als die Schatten zu beobachten, die langsam über die Wände zogen, während sich die Rippen unter ihrer blassen Haut abzeichneten wie Holz, das aus dem Wasser ragt.
Aber selbst dann wehrte sie sich noch gegen den Eingriff und den Trost, den er ihr spenden würde. An dem Tag, als sie das Heilmittel verabreicht bekommen sollte, waren vier Wissenschaftler und mehrere Spritzen Beruhigungsmittel nötig, bevor sie sich beugte, bevor sie aufhörte, mit ihren langen, scharfen Nägeln zu kratzen, die sie wochenlang nicht geschnitten hatte, und zu schreien, zu fluchen und nach Thomas zu rufen. Ich sah zu, wie sie abgeholt wurde. Ich saà entsetzt in einer Ecke, während sie spuckte, zischte und um sich trat, und dachte an meine Eltern.
An jenem Nachmittag begann ich die Monate bis zu meinem Eingriff zu zählen, obwohl es noch fast ein Jahrzehnt hin war.
SchlieÃlich wurde meine Schwester geheilt. Sanftmütig und zufrieden kam sie zu mir zurück, die Nägel makellos und rund geschnitten, die Haare zu einem langen, dicken Zopf geflochten. Mehrere Monate später wurde sie einem etwa gleichaltrigen Informatiker zugeteilt, und einige Wochen nach ihrem Collegeabschluss heirateten sie. Sie hatten die Hände locker verschränkt und sahen beide geradeaus, als blickten sie in eine Zukunft aus Tagen, die ungetrübt von Sorgen, Unzufriedenheit oder Unstimmigkeiten verstreichen würden, eine Zukunft aus identischen Tagen wie Perlen auf einer Schnur.
Thomas wurde auch geheilt. Er wurde mit Ella verheiratet, die früher die beste Freundin meiner Schwester gewesen war, und jetzt sind alle glücklich. Rachel erzählte mir vor ein paar Monaten, dass sich die beiden Paare oft bei Picknicks und Nachbarschaftsveranstaltungen treffen, weil sie ziemlich nah beieinander im East End wohnen. Alle vier sitzen zusammen und führen höfliche und friedliche Gespräche, ohne dass der geringste Anflug aus der Vergangenheit die Ruhe und Vollkommenheit der Gegenwart stört.
Das ist das Schöne an dem Heilmittel. Niemand erwähnt jene vergangenen, heiÃen Tage auf der Wiese, als Thomas Rachels Tränen wegküsste und Welten erfand, einfach nur, um sie ihr versprechen zu können, oder als sie sich beim Gedanken daran, ohne ihn leben zu müssen, die Haut von den Armen zog. Ich bin sicher, dass ihr das peinlich ist, wenn sie sich überhaupt daran erinnert. Es stimmt zwar, dass ich sie gar nicht mehr so oft sehe â nur alle paar Monate, wenn ihr einfällt, dass sie mal wieder vorbeikommen sollte â, und so betrachtet könnte man vermutlich sagen, dass ich trotz des Eingriffs ein Stück von ihr verloren habe. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass sie geschützt ist. Es geht darum, dass sie in Sicherheit ist.
Ich werde euch noch ein Geheimnis verraten, diesmal zu eurem Besten. Ihr denkt vielleicht, die Vergangenheit hätte euch was zu sagen. Ihr denkt vielleicht, dass ihr auf sie hören solltet, euch bemühen solltet, ihr Flüstern zu verstehen, euch nach hinten wenden oder bücken solltet, um ihre Stimme zu vernehmen, die vom Boden her, von den toten Orten her wispert. Ihr denkt vielleicht, dass darin etwas steckt, das für euch interessant sein könnte, etwas, das ihr verstehen müsstet oder das Sinn ergäbe.
Aber ich kenne die Wahrheit: Ich weià es aus den Nächten der »Kälte«. Ich weiÃ, dass die Vergangenheit euch hinunterziehen wird, wenn ihr auf das Flüstern des Windes lauscht und auf das Geschwätz der Bäume, die sich aneinander reiben, und irgendeinen Code zu entziffern versucht oder zusammenzufügen, was zerbrochen ist. Es ist hoffnungslos. Die Vergangenheit ist nichts weiter als eine Last. Sie wird in euch liegen wie ein Stein.
Glaubt mir: Wenn ihr hört, dass die Vergangenheit mit euch spricht, wenn ihr spürt, wie sie hinten an euch zieht und mit den Fingern eure Wirbelsäule entlangfährt, ist das Beste â das Einzige â, was ihr tun könnt, wegzurennen.
In den Tagen nach Alexâ Geständnis prüfe ich andauernd, ob ich Symptome der Krankheit an mir entdecke. Wenn ich im Laden meines Onkels an der Kasse stehe, beuge ich mich vor, stütze mich auf den Ellbogen und lege meine Hand an die Wange, so dass ich die Finger nach hinten bis zum Hals biegen kann, um meinen Puls zu fühlen und
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