Delirium
mich zu vergewissern, dass er normal geht. Morgens atme ich langsam und tief ein und lausche dabei, ob es in meiner Lunge kratzt. Ich wasche mir ständig die Hände. Ich weiÃ, dass Deliria nicht dasselbe ist wie eine Erkältung â man kann sie nicht bekommen, wenn man angeniest wird â, aber immerhin ist sie ansteckend, und als ich am Tag nach unserem Treffen am East End Beach mit schweren Gliedern, einem Kopf so leicht wie eine Seifenblase und starken Halsschmerzen aufwachte, war mein erster Gedanke, dass ich mich angesteckt hatte.
Nach ein paar Tagen geht es mir besser. Das einzig Komische ist, dass meine Sinne irgendwie trüber geworden sind. Alles wirkt ausgewaschen, wie eine schlechte Farbkopie. Ich muss mein Essen mit massenhaft Salz bestreuen, damit es nach etwas schmeckt, und alles, was meine Tante zu mir sagt, kommt mir von Mal zu Mal gedämpfter vor. Aber ich habe im Buch Psst gelesen und mich über alle bekannten Symptome der Deliria informiert und nichts gefunden, was dazu passt, weshalb ich schlieÃlich davon ausgehe, dass ich gesund bin.
Trotzdem treffe ich VorsichtsmaÃnahmen. Ich bin fest entschlossen, keinen falschen Schritt zu tun, mir selbst zu beweisen, dass ich nicht so bin wie meine Mutter â dass die Sache mit Alex nur Zufall war, ein Fehler, ein ganz schrecklicher Unfall. Ich kann nicht leugnen, dass ich mich groÃer Gefahr ausgesetzt habe. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn irgendjemand herausfände, was mit Alex los ist, wenn irgendjemand wüsste, dass wir zitternd nebeneinander im Wasser gestanden haben, dass wir uns unterhalten, gelacht, uns berührt haben. Mir wird ganz übel. Immer wieder sage ich mir vor, dass es nicht mal mehr zwei Monate bis zu meinem Eingriff sind. Ich muss nichts weiter tun, als mich unauffällig zu verhalten und die nächsten sieben Wochen zu überstehen, und dann wird alles gut.
Ich komme jeden Abend ganze zwei Stunden vor der Ausgangssperre nach Hause. Ich übernehme freiwillig zusätzliche Schichten im Laden und verlange noch nicht mal meine üblichen acht Dollar pro Stunde. Hana ruft mich nicht an. Ich rufe sie auch nicht an. Ich helfe meiner Tante dabei, das Abendessen zu kochen, und anschlieÃend räume ich unaufgefordert ab und spüle das Geschirr. Gracie macht einen Sommer-Nachhilfekurs â sie ist erst in der ersten Klasse und es ist bereits die Rede davon, dass sie eventuell sitzenbleibt â und jeden Abend ziehe ich sie auf meinen Schoà und helfe ihr, wenn sie sich mühsam durch ihre Hausaufgaben quält, flüstere ihr ins Ohr, bitte sie zu sprechen, sich zu konzentrieren, zuzuhören und überrede sie schlieÃlich dazu, wenigstens die Hälfte der Antworten in ihr Heft zu schreiben. Nach einer Woche sieht meine Tante mich nicht mehr jedes Mal misstrauisch an, wenn ich zur Tür reinkomme, will nicht mehr wissen, wo ich gewesen bin, und eine weitere Last fällt von mir ab. Sie vertraut mir wieder. Es war nicht einfach zu erklären, warum in aller Welt Sophia Hennerson und ich uns direkt nach einem groÃen Familienabendessen zu einem spontanen Bad im Meer entschlossen hatten â noch dazu in unseren Kleidern. Noch schwerer zu erklären war es, warum ich dermaÃen bleich und zitternd nach Hause kam, und mir war klar, dass meine Tante mir die Geschichte nicht abkaufte. Aber nach einer Weile entspannt sie sich in meiner Gegenwart wieder und hört auf, mich argwöhnisch anzusehen, als wäre ich ein Tier im Käfig, das jeden Moment durchdrehen könnte.
Tage verstreichen, die Zeit verrinnt, die Sekunden klicken wie Dominosteine, die nacheinander umkippen. Die Hitze wird täglich schlimmer. Sie kriecht durch die StraÃen Portlands, gärt in den Müllcontainern und die Stadt stinkt wie eine riesige Achselhöhle. Die Wände schwitzen, die StraÃenbahnen keuchen und beben. Leute versammeln sich vor den städtischen Gebäuden und hoffen darauf, einen kurzen Schwall kalter Luft abzubekommen, sobald die mechanischen Türen aufgleiten, weil ein Aufseher, ein Politiker oder ein Wachmann rein- oder rausmuss.
Ich muss mit dem Lauftraining aufhören. Bei meiner letzten ganzen Runde drauÃen stelle ich fest, dass mich meine FüÃe runter zum Monument Square tragen, am Gouverneur vorbei. Hoch oben flimmert die Sonne weià vor Hitze, alle Gebäude zeichnen sich vor dem Himmel deutlich ab wie eine Reihe Metallzähne. Als ich
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