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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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bei der Statue ankomme, schnappe ich erschöpft nach Luft und vor meinen Augen dreht sich alles. Ich packe den Gouverneur am Arm und schwinge mich auf den Sockel der Statue. Das Metall brennt unter meiner Hand und die Welt schwankt wie verrückt, überall zucken Lichtstreifen. Mir ist undeutlich bewusst, dass ich reingehen sollte, aus der Hitze muss, aber mein Hirn ist total benebelt und deshalb bohre ich mit den Fingern in dem Loch in der Faust des Gouverneurs. Ich weiß nicht, wonach ich suche. Alex hat gesagt, dass die Nachricht, die er vor Monaten für mich hinterlassen hat, schon längst zu Brei geworden sein muss. Meine Finger werden ganz klebrig, Reste geschmolzenen Kaugummis ziehen Fäden zwischen Daumen und Zeigefinger, aber ich wühle weiter. Und dann spüre ich, wie sie zwischen meine Finger gleitet, kühl und steif, zu einem Quadrat gefaltet: eine Nachricht.
    Ich bin schon halb weggetreten, als ich sie aufklappe, aber ich rechne immer noch nicht wirklich damit, dass sie von ihm ist. Meine Hände beginnen zu zittern.
    Lena,
    es tut mir so leid. Bitte vergib mir.
    Alex
    An den Weg nach Hause kann ich mich nicht erinnern und meine Tante findet mich später halb ohnmächtig im Flur, wo ich vor mich hin murmele. Sie muss mich in eine Badewanne voller Eis stecken, damit meine Temperatur wieder runtergeht. Als ich schließlich zu mir komme, kann ich die Nachricht nirgends finden. Ich muss sie fallen gelassen haben und ich bin teils erleichtert und teils enttäuscht. Am Abend erfahren wir, dass am Zeit- und Temperaturgebäude 39 Grad gemessen wurden – der bisher heißeste Tag des Sommers.
    Meine Tante verbietet mir, den Rest des Sommers über, draußen zu laufen. Ich sperre mich nicht dagegen. Ich traue mir selbst nicht über den Weg, kann nicht garantieren, dass mich meine Füße nicht wieder zum Gouverneur tragen würden, zum East End Beach, zu den Labors.
    Ich bekomme einen neuen Termin für die Evaluierung mitgeteilt und verbringe die Abende damit, meine Antworten vor dem Spiegel zu proben. Meine Tante besteht auch jetzt darauf, mich zu den Labors zu begleiten, aber diesmal sehe ich Hana nicht. Ich sehe niemanden, den ich kenne. Selbst die vier Gutachter sind andere: schwebende ovale Gesichter, unterschiedliche Braun- und Rosatöne, zweidimensional wie schattierte Zeichnungen. Diesmal habe ich keine Angst. Ich spüre gar nichts.
    Ich beantworte alle Fragen genau so, wie ich sollte. Als ich nach meiner Lieblingsfarbe gefragt werde, blitzt in meinem Bewusstsein ein Himmel in der Farbe von poliertem Silber auf, nur eine winzige kurze Sekunde, und ich meine ein Wort zu hören, das mir leise ins Ohr geflüstert wird – Grau .
    Ich sage: »Blau«, und alle lächeln.
    Ich sage: »Ich würde gerne Psychologie und Sozialregulierung studieren.« Ich sage: »Ich höre gern Musik, aber nicht zu laut.« Ich sage: »Sicherheit bedeutet Glück.« Lächeln, Lächeln und immer mehr Lächeln um mich herum, ein Raum voller Zähne.
    Als ich fertig bin und den Raum verlasse, glaube ich, aus den Augenwinkeln eine schattenhafte Bewegung, ein Zucken wahrzunehmen. Ich werfe einen kurzen Blick hinauf zur Tribüne. Sie ist natürlich leer.
    Zwei Tage später bekomme ich die Ergebnisse meiner Abschlussprüfungen – alle bestanden – und meine Endnote: acht Punkte. Meine Tante umarmt mich, es ist das erste Mal seit Jahren, dass sie mich umarmt. Mein Onkel klopft mir unbeholfen auf die Schulter und gibt mir beim Abendessen das größte Stück Hähnchen. Selbst Jenny scheint beeindruckt. Gracie rammt den Kopf gegen mein Bein, ein-, zwei-, dreimal, und ich mache einen Schritt zur Seite und sage ihr, sie soll sich nicht so anstellen. Ich weiß, dass sie sich aufregt, weil ich weggehen werde.
    Aber so ist das Leben, und je schneller sie sich daran gewöhnt, desto besser.
    Auch meine »genehmigten Treffer« werden mir mitgeteilt, eine Liste mit vier Namen und weiteren Angaben – Alter, Noten, Interessen, empfohlener Berufsweg, Gehaltsprognose –, sorgfältig auf einem weißen Blatt Papier mit dem Stadtwappen Portlands im Briefkopf ausgedruckt. Wenigstens steht Andrew Marcus nicht drauf. Ich erkenne nur einen Namen: Chris McDonnell. Er hat leuchtend rote Haare und Hasenzähne. Ich kenne ihn nur, weil er letztes Jahr einmal, als ich mit Gracie draußen spielte, zu singen begann: »Da sind ja die Irre

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