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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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halbwegs ungestört zu sein.
    Zuerst versuche ich es bei Hana zu Hause. Es klingelt einmal, zweimal, dreimal, viermal, fünfmal. Dann springt der Anrufbeantworter an. »Dies ist der Anschluss der Familie Tate. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht, die nicht länger ist als zwei Minuten …«
    Ich lege schnell auf. Meine Finger haben angefangen zu zittern und es fällt mir schwer, Hanas Handynummer einzutippen. Direkt zur Mailbox.
    Ihr Begrüßungstext ist genau derselbe wie immer (»Hallo, tut mir leid, dass ich nicht ans Telefon gehen kann. Oder vielleicht tut’s mir auch nicht leid – das hängt davon ab, wer anruft«) , ihre Stimme klingt verzerrt und bebt vor unterdrücktem Gelächter. Den Spruch nach letzter Nacht zu hören – als wäre nichts gewesen – lässt mich zusammenfahren, wie wenn man sich plötzlich an einen Ort träumt, an den man lange nicht gedacht hat. Ich kann mich noch an den Tag erinnern, an dem sie die Ansage aufgenommen hat. Es war nach der Schule in ihrem Zimmer und sie probierte ungefähr eine Million Begrüßungstexte aus, bevor sie sich für diesen entschied. Mir war langweilig und ich schlug sie immer wieder mit einem Kissen, wenn sie schon wieder nur einen noch ausprobieren wollte.
    Â»Hana, ruf mich unbedingt an«, sage ich so leise wie möglich ins Telefon. Mir ist mehr als bewusst, dass meine Tante mithört. »Ich arbeite heute. Du kannst mich im Laden erreichen.«
    Unzufrieden lege ich auf. Ich habe Schuldgefühle. Während ich letzte Nacht mit Alex im Schuppen war, wurde sie möglicherweise verprügelt oder ist in Schwierigkeiten geraten; ich hätte nach ihr suchen müssen.
    Â»Lena.« Meine Tante ruft mich streng zurück in die Küche, als ich gerade die Treppe hochgehe, um mich fertig zu machen.
    Â»Ja?«
    Sie tritt ein paar Schritte vor. Irgendetwas in ihrem Gesichtsausdruck macht mich nervös.
    Â»Humpelst du?«, fragt sie. Ich habe angestrengt versucht, normal zu laufen.
    Ich senke den Blick. Es ist einfacher zu lügen, wenn ich ihr nicht in die Augen sehe. »Ich glaube nicht.«
    Â»Lüg mich nicht an.« Ihre Stimme wird kalt. »Du glaubst, ich wüsste nicht, was los ist, aber das tu ich sehr wohl.« Voller Entsetzen rechne ich schon damit, dass sie mich auffordert, meine Schlafanzughose hochzukrempeln, oder dass sie von der Party erfahren hat. Aber dann sagt sie: »Du warst wieder laufen, stimmt’s? Obwohl ich es dir verboten habe.«
    Â»Nur einmal«, platze ich erleichtert heraus. »Ich glaub, ich hab mir den Knöchel verstaucht.«
    Carol schüttelt den Kopf und sieht enttäuscht aus. »Ehrlich, Lena. Ich weiß nicht, seit wann du nicht mehr auf mich hörst. Ich dachte, dass ausgerechnet du …« Sie bricht ab. »Na gut. Es sind nur noch fünf Wochen, stimmt’s? Dann hat sich das alles erledigt.«
    Â»Stimmt.« Ich zwinge mich zu einem Lächeln.
    Den ganzen Morgen mache ich mir abwechselnd Sorgen um Hana oder denke an Alex. Ich tippe zweimal einen falschen Preis ein und muss Jed rufen, den Geschäftsführer meines Onkels, damit er den Betrag storniert. Dann werfe ich ein ganzes Gestell mit Tiefkühl-Nudelgerichten um und zeichne ein Dutzend Kartons Hüttenkäse falsch aus. Gott sei Dank ist mein Onkel heute nicht im Laden; er ist unterwegs, um Bestellungen auszuliefern, daher sind Jed und ich allein. Und Jed sieht mich eigentlich nie an und spricht auch nicht mit mir, abgesehen von dem einen oder anderen Grunzen. Ihm fällt bestimmt nicht auf, dass ich mich plötzlich in eine tollpatschige, unfähige Chaotin verwandelt habe.
    Ich weiß natürlich, woher diese Probleme kommen. Orientierungslosigkeit, Zerstreutheit, Konzentrationsschwierigkeiten – all das sind typische Symptome in der ersten Phase der Deliria. Aber es ist mir egal. Wenn sich eine Lungenentzündung so gut anfühlen würde, würde ich mich im Winter barfuß und ohne Mantel raus in den Schnee stellen oder ins Krankenhaus gehen und die Lungenpatienten küssen.
    Ich habe Alex gesagt, wann ich arbeiten muss, und wir haben vereinbart, uns direkt nach meiner Schicht, um sechs, bei Back Cove zu treffen. Die Minuten kriechen auf Mittag zu. Ich schwöre, Zeit ist noch nie langsamer verstrichen. Als brauchte jede Sekunde eine Extraeinladung, nur um zur nächsten weiterzuticken. Ich starre die Zeiger an, aber davon

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