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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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von heute Morgen bekommen«, sagt Hana und dreht sich zu mir um. Ihre Augen wirken sogar noch größer als sonst. Vielleicht liegt es daran, dass der Rest ihres Gesichts kleiner aussieht, irgendwie eingefallen. »Ich bin vorbeigekommen und hab dich nicht an der Kasse gesehen, deshalb dachte ich, ich geh mal hier rum. Ich war nicht in der Stimmung, mich mit deinem Onkel zu unterhalten.«
    Â»Er ist heute gar nicht da.« Ich entspanne mich langsam. Alex wäre längst hier, wenn er vorhätte zu kommen. »Nur Jed und ich.«
    Ich kann nicht sagen, ob Hana mir zuhört. Sie kaut nervös an ihrem Daumennagel – eine Angewohnheit, von der ich dachte, sie hätte sie schon vor Jahren abgelegt – und starrt auf den Boden, als wäre es das faszinierendste Stück Linoleum, das sie je gesehen hätte.
    Â»Hana?«, frage ich. »Alles in Ordnung?«
    Plötzlich wird sie von einem heftigen Beben geschüttelt, ihre Schultern kippen nach vorn und sie beginnt zu schluchzen. Ich habe Hana in meinem ganzen Leben nur zweimal weinen sehen – als ihr jemand beim Völkerball in der zweiten Klasse den Ball direkt in den Magen feuerte und letztes Jahr, nachdem wir gesehen hatten, wie ein krankes Mädchen vor den Labors von der Polizei zu Boden gerungen wurde und ihr Kopf dabei so fest auf den Asphalt knallte, dass wir es bis zu unserem Standort hören konnten, gut fünfzig Meter entfernt. Einen Moment bin ich total erstarrt und unsicher, was ich tun soll. Sie hebt nicht die Hände ans Gesicht oder versucht ihre Tränen abzuwischen oder so etwas. Sie steht einfach nur da, die Hände an ihren Seiten zu Fäusten geballt, und zittert so sehr, dass ich Angst habe, sie könne umkippen.
    Ich strecke den Arm aus und streiche ihr mit einer Hand kurz über die Schulter. »Schhh, Hana. Schon gut.«
    Sie zuckt zurück. »Nichts ist gut.« Sie atmet tief und stockend ein und spricht dann ganz schnell. »Du hattest Recht, Lena. Du hattest mit allem Recht. Letzte Nacht – es war schrecklich. Es gab eine Razzia … die Party wurde aufgelöst. O Gott. Alle haben geschrien und die hatten Hunde – Lena, da war Blut. Sie haben Leute verprügelt, ihnen einfach so ihre Schlagstöcke über den Kopf gezogen, als wäre es nichts. Die Leute fielen links und rechts zu Boden und es war – oh, Lena. Es war so fürchterlich, so fürchterlich.« Hana beugt sich vor und legt die Hände auf den Bauch, als würde sie sich gleich übergeben.
    Sie setzt an, noch etwas zu sagen, aber der Rest ihrer Worte geht in heftigen, bebenden Schluchzern unter, die ihren ganzen Körper schütteln. Ich mache einen Schritt nach vorn und nehme sie in den Arm. Einen Augenblick verspannt sie sich – wir umarmen uns fast nie, das macht man einfach nicht –, aber dann wird sie locker, drückt ihr Gesicht an meine Schulter und lässt ihren Tränen freien Lauf. Es ist irgendwie seltsam, denn sie ist viel größer als ich; sie muss sich zu mir runterbeugen. Wenn es nicht so furchtbar wäre, wäre es geradezu lustig.
    Â»Schhh«, sage ich. »Schhh. Alles wird gut.« Aber noch während ich die Worte ausspreche, kommen sie mir blöd vor. Ich muss daran denken, wie ich Grace in meinen Armen gehalten und sie in den Schlaf gewiegt habe und dabei das Gleiche sagte, während sie lautlos in mein Kissen weinte. Alles wird gut. Worte, die in Wirklichkeit nichts bedeuten, nur Geräusche, die wir in die endlose Weite und Dunkelheit sprechen, verzweifelte kleine Versuche, uns im Fallen an etwas festzuklammern.
    Hana sagt noch etwas, das ich nicht verstehe. Ihr Gesicht ist an mein Schlüsselbein gedrückt und ihre Worte sind gedämpft.
    Und dann ertönt das Klopfen. Vier leise, aber bestimmte Klopfer, einer nach dem anderen.
    Hana und ich lösen uns augenblicklich voneinander. Sie fährt mit einem Arm über ihr Gesicht und vom Handgelenk bis zum Ellbogen bleibt ein Streifen Tränen zurück.
    Â»Was ist das?«, fragt sie. Ihre Stimme zittert.
    Â»Was denn?« Ich tue so, als hätte ich nichts gehört – und bete zu Gott, dass Alex weggeht.
    Klopf, klopf, klopf. Pause. Klopf. Noch mal.
    Â»Das da.« Gereiztheit schleicht sich in Hanas Stimme. Vermutlich sollte ich froh sein, dass sie nicht mehr weint. »Das Klopfen.« Sie kneift die Augen zusammen und sieht mich misstrauisch an. »Ich dachte, hier kommt nie jemand

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