Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
Sonne aufgegangen ist. Auch die Toten werden bei ihrem Begräbnisse so gelegt, daß ihr Angesicht nach dieser Gegend gerichtet ist.«
»Weißt du, woher eure Religion gekommen ist?«
»Scheik Adi, der Heilige, hat sie uns gelehrt. Wir selbst aber sind aus den Ländern des untern Euphrat gekommen. Dann zogen unsere Väter nach Syrien, nach dem Sindschar und endlich hierher.«
Ich hätte sehr gern noch weiter gefragt, aber es erschallte von oben her ein Schrei, und als wir emporblickten, erkannten wir Selek, welcher im Begriffe war, zu uns herabzusteigen. Bald stand er neben uns und reichte uns die Hand.
»Beinahe hätte ich euch erschossen,« lautete sein Gruß.
»Uns? Warum?« fragte ich.
»Von oben herab hielt ich euch für Fremde, und solche dürfen in dieses Thal nicht eindringen. Dann aber erkannte ich euch. Ich komme, um nachzusehen, ob das Thal der Vorbereitung bedarf.«
»Zur Aufnahme der Flüchtigen?«
»Der Flüchtigen? Wir werden nicht fliehen; aber ich habe dem Bey erzählt, wie listig du die Feinde der Schammar nach jenem Thale locktest, in welchem ihr sie gefangen nahmt, und wir werden ganz dasselbe thun.«
»Ihr wollt die Türken hierher locken?«
»Nein, sondern nach Scheik Adi; die Pilger aber sollen während des Kampfes hier untergebracht werden. Der Bey hat es so befohlen, und der Scheik ist damit einverstanden.«
Er untersuchte das Wasser und die Höhlen und fragte uns dann, ob wir ihn zurückbegleiten wollten. Dies verstand sich ganz von selbst. Wir führten unsere Pferde empor, saßen dann auf und hielten stracks auf Baadri zu. Als wir dort ankamen, fand ich den Bey einigermaßen in Aufregung.
»Ich habe Kunde erhalten, seitdem du fortgeritten bist,« sagte er. »Die Türken aus Diarbekir stehen bereits am Ghomelflusse, und die aus Kerkjuk haben unterhalb der Berge auch schon denselben Fluß erreicht.«
»So sind deine Kundschafter von Amadijah bereits zurück?«
»Sie sind gar nicht bis nach Amadijah gekommen, denn sie mußten sich teilen, um diese Truppen zu beobachten. Es ist nun erwiesen, daß der geplante Überfall nur uns gilt.«
»Ist es bereits bekannt?«
»Nein, denn dadurch könnte der Feind erfahren, daß er uns gerüstet finden wird. Ich sage dir, Emir, ich werde entweder sterben oder diesem Mutessarif eine Lehre geben, die er nie vergessen soll!«
»Ich werde bis nach dem Kampfe bei dir bleiben.«
»Ich danke dir, Emir; aber kämpfen sollst du nicht!«
»Warum nicht?«
»Du bist mein Gast: Gott hat mir dein Leben anvertraut.«
»Gott kann es am besten schützen. Soll ich dein Gast sein und dich allein in den Kampf gehen lassen? Sollen die Deinen von mir erzählen, daß ich ein Feigling bin?«
»Das werden sie niemals sagen. Bist du nicht auch der Gast des Mutessarif gewesen? Hast du nicht seinen Paß und seine Briefe in der Tasche? Und jetzt willst du gegen ihn kämpfen? Mußt du nicht deinen Arm aufheben für den Sohn deines Freundes, den ihr befreien wollt? Und kannst du mir nicht dienen, auch ohne daß du meine Feinde tötest?«
»Du hast recht in allem, was du sagest. Ich wollte aber auch nicht töten, sondern vielleicht dahin wirken, daß kein Blut vergossen wird.«
»Laß diese Sorge mir, Effendi! Ich trachte nicht nach Blut; ich will nur den Tyrannen von mir weisen.«
»Wie willst du dies durchführen?«
»Weißt du, daß in Scheik Adi bereits dreitausend Pilger eingetroffen sind? Bis zum Beginne des Festes werden es sechstausend und noch mehr sein.«
»Männer, Frauen und Kinder?«
»Ja. Die Frauen und Kinder sende ich in das Thal Idiz, und nur die Männer bleiben zurück. Die Truppen aus Diarbekir und Kerkjuk werden sich auf dem Wege von Kaloni her vereinigen, und die aus Mossul kommen über Dscherraijah oder Aïn Sifni herauf. Sie wollen uns in dem Thale des Heiligen einschließen; wir aber steigen hinter dem Grabe empor und stehen rund um das Thal, wenn sie eingerückt sind. Dann können wir sie niederstrecken bis auf den letzten Mann, wenn sie sich nicht ergeben. Andernfalls aber sende ich einen Boten an den Mutessarif und stelle meine Bedingungen, unter denen ich sie freigebe. Er wird sich dann vor dem Großherrn in Stambul zu verantworten haben.«
»Er wird diesem die Angelegenheit in einem falschen Lichte schildern.«
»Aber es wird ihm nicht gelingen, den Padischah zu täuschen; denn ich habe vorhin eine heimliche Gesandtschaft nach Stambul gesandt, welche ihm zuvorkommen wird.«
Ich mußte mir im Innern eingestehen, daß Ali Bey nicht
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