Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
meinem Hause zu Baadri, und ich habe bereits Boten ausgesandt, sie herbeizuholen. Sie wird ankommen, noch ehe Ihr am Scheiterhaufen Eure Arbeit beendet habt.«
Dies war genügend, und so setzte sich die Prozession nach niederwärts in Bewegung. Wir kamen bei der Batterie vorüber und langten an dem Orte an, wo der ›Heilige‹ sich und seinen Feind der Rache geopfert hatte. Wir sahen einen Aschenhügel, aus dem die halb verbrannten Stummel starker Hölzer hervorragten. Vor demselben lag die Leiche des erschossenen Parlamentärs. Die Hitze des Feuers hatte wohl seine Kleider, nicht aber seinen Körper zerstört. Er wurde entfernt, eine Arbeit, bei welcher unsere Geruchsnerven nicht wenig zu leiden hatten.
Die Asche war erkaltet. Die nahe liegenden Häuser lieferten die nöthigen Werkzeuge, und nun begann man eine vorsichtige, nur Zoll für Zoll fortschreitende Wegräumung der Aschendecke. Diese Abräumung mußte so sorglich vorgenommen werden, daß sie eine sehr lange Zeit in Anspruch nahm, während welcher ein Dschesidi mit einem Maultiere anlangte, auf dessen Rücken die Urne befestigt war. Ihre Form glich über dem Fuße derjenigen eines umgestürzten Glasschirmes, wie wir sie auf unseren Lampen zu sehen pflegen, und darauf ruhte ein Deckel, welchen eine Sonne krönte. Auf diesem Gefäße waren eine Abbildung und einige Worte im Kurmangdschi eingebrannt. Die Zeichnung stellte einen fliegenden Vogel mit gabelförmigem Schwanz und spitzen Flügeln vor. Welcher Art dieser Vogel sein sollte, sagte mir die Unterschrift: Hadschi Hadschik, der Pilger unter den Pilgern, d. i. die Schwalbe.
Rund um den Vogel und die Unterschrift waren acht Worte in folgender Ordnung zu sehen:
Speïda
Mezaal
Isterik (Abbildung der Schwalbe)
Kabirstan
Adef (Hadschi Hadschik)
Toprasch
Azman
Ross.
In deutscher Sprache würden diese acht Worte also lauten:
Morgenröthe
Grabmal
Stern (Abbildung der Schwalbe)
Kirchhof
Sonne (Hadschi Hadschik)
Erde
Himmel
Tag.
Die Bedeutung dieser Inschrift ist so klar, daß es gar nicht nöthig ist, eine besondere Erklärung derselben zu geben. Ich deutete auf den Vogel und frug einen der Scheiks:
»Ist die Schwalbe ein heiliger Vogel der Dschesidi?«
»Sie ist ein Symbol der irdischen Pilgerschaft. Wenn der Herbst kommt, zieht sie in schönere Länder, und wenn der Sommer des Menschen vorüber ist, so rüstet auch er sich, abzuscheiden von den Bergen, an denen er sein Nest erbaute, und hinüberzugehen in eine bessere Welt. Jenseits des Grabes, des Friedhofes und der Erde geht auf die Morgenröthe und der Tag eines anderen Sternes, einer reineren Sonne, der Tag des Himmels, welcher kein Ende kennt und keine Nacht besitzt. Hier auf dieser Kilja steht es geschrieben.«
Es schien mir ganz unmöglich, die Überreste des ›Heiligen‹ von denen des Scheiterhaufens zu unterscheiden; allein ich sollte mich bei dieser Annahme geirrt haben. Als die Asche beinahe bis zum Boden herab fortgeräumt worden war, wurden zwei formlose Klumpen bloßgelegt, denen die Priester ihre ganze Aufmerksamkeit zuwandten. Sie schienen nicht in’s Reine kommen zu können, und Mir Scheik Khan winkte mich hinzu.
Es war keine leichte Aufgabe, diese Gegenstände genau zu untersuchen; man mußte sich Mund und Nase dabei verschließen. Wir hatten wirklich die Körper der beiden Todten vor uns. Sie waren halb verbraten und halb verkohlt, auf ein Drittheil ihrer früheren Größe zusammengeschrumpft und von einer ziemlich starken Kruste umgeben, welche, wie sich bei der näheren Untersuchung ergab, aus den unverbrennlichen Bestandtheilen des Erdpeches und der daran angeklebten Asche bestand.
»Es sind die Todten,« meinte ich. »Ihr habt es diesem Erdpeche zu verdanken, daß Ihr Euren ›Heiligen‹ begraben könnt.«
»Aber welcher ist es?«
»Sucht ihn heraus!«
Ich wollte sehen, wie weit der Scharfsinn dieser Männer gehe. Sie gaben sich die größte Mühe, vermochten es aber nicht, die scheinbar schwierige und doch so leichte Frage zu entscheiden.
»Es ist unmöglich, den Pir zu erkennen,« meinte endlich der Khan in ziemlicher Rathlosigkeit. »Wir müssen entweder darauf verzichten, seiner Asche die gebührende Ehre zu erweisen, oder wir sind gezwungen, beide Körper in die Urne zu legen, Freund und Feind, den Frommen und den Gottlosen. Oder weißt Du einen bessern Rath, Emir Kara Ben Nemsi?«
»Ich weiß einen.«
»Wie lautet er?«
»Nur allein die Gebeine des Pir in die Urne zu thun.«
»Aber Du hast ja gehört,
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