Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
Dank! – die reine, frische Luft in meine Lungen ein. Es war mir, als ob ich aus der Hölle in den Himmel gekommen sei.
»Hast Du Hunger?« fragte er mich.
»Nein.«
»Durst?«
»Auch nicht.«
»Du wirst Speise und Trank bekommen, und wir werden Dich nicht quälen, solange Du Dich schweigsam verhältst und keinen Versuch machst, die Stricke zu lösen. Bist Du aber ungehorsam, so habe ich den Befehl, Dich zu tödten.«
Das Gesicht verschwand über mir. Ich hatte freiere Bewegung, da der Teppich mich nicht mehr umhüllte, und konnte mich in sitzende Stellung bringen. Ich befand mich im hinteren Theile eines schmalen, ewig langen Wagens, welcher mit einer Plane oder Plahe versehen war; hart vor mir hockte der Diener als mein Wächter, und vorn saßen Zwei neben einander. Den Einen von ihnen mußte ich auch gesehen haben; er gehörte zu Jenen, in deren Hände ich gerathen war. Der Andere aber war auf alle Fälle der Fuhrmann, der Kiradschi, von welchem der Derwisch gesprochen hatte. Ich sah von ihm nichts als den Pelz, welchen der Kiradschi auch im Sommer trägt, einen ungeheuer gekrämpten Hut und die Peitsche; aber der Mann, welcher unter diesem monströsen Hute und in diesem schmierigen Pelze steckte, war mir jetzt von unsagbarer Wichtigkeit.
Ich konnte mir nicht denken, daß ein Kiradschi der alten, ehrlichen ›Schule‹ ein Verbündeter von Verbrechern sein könne, und doch konnte ich mich auch nicht zu der Annahme entschließen, daß der vorsündfluthliche Pelz einen Fuhrmann neuerer Schule beherbergen könne. Man mußte das abwarten. Ich lehnte mich also an die Hinterwand zurück und behielt den Mann im Auge.
Da endlich, nach langer Zeit, drehte er sich einmal um. Sein Blick fiel auf mich. Die großen, blauen Augen blieben einige Augenblicke starr auf mein Gesicht gerichtet, dann wendete er den Kopf wieder ab. Vorher aber hatte er Zeit gefunden, die Brauen hoch empor zu ziehen und das linke Auge zuzukneifen.
Ich verstand diese Pantomime sofort. Die Bewegung der Brauen deutete mir an, daß ich aufmerksam sein solle, und der Wink des Auges wies mich auf die linke Seite des Wagens hin. Gab es dort irgend Etwas für mich Vortheilhaftes?
Ich musterte die innere Seite des Wagens, konnte aber nur eine Schnur entdecken, welche an dem oberen Theile der Wagenleiter befestigt war und, von da herniedergehend, sich unter dem Heu verlief. Sie war straff angespannt, es schien also Etwas daran zu hängen. War es diese Schnur, auf welche mich der Mann aufmerksam machen wollte?
Ich that so, als ob mir meine gegenwärtige Lage unbequem wäre, und rutschte weiter vor. Ich lehnte mich so an die linke Seite an, daß ich mit den Händen, trotzdem dieselben gebunden waren, die betreffende Stelle untersuchen konnte. Ich mußte mir Mühe geben, einen Laut der Freude zu unterdrücken, denn an der Schnur hing – – ein Messer. Der brave Kiradschi hatte es für mich bestimmt und war glücklicherweise so klug gewesen, es nicht fest anzuknoten, sondern es nur mittelst einer Schlinge, welche ich leicht aufziehen konnte, zu befestigen.
Im nächsten Augenblick war es von der Schnur gelöst und steckte im Schafte meines Stiefels, so daß die Klinge, mit der Schneide nach auswärts gerichtet, aus demselben hervorragte. Ich bog die Knie und zog sie so weit an den Leib, daß ich mit den Händen die Klinge erreichen konnte. Sie war sehr scharf; ein vier- oder fünfmaliges Hin- und Hersägen genügte, die Fessel zu zerschneiden, und die Befreiung meiner Füße war nun eine Leichtigkeit.
Ich athmete tief auf. Jetzt war ich kein Gefangener mehr und hatte in dem Messer eine Waffe, auf welche ich mich verlassen konnte. Alle diese Bewegungen waren unter dem Heu vor sich gegangen. Niemand konnte sehen, daß ich frei war.
Ich wagte es, den einen Arm zu erheben und die untere Kante der Plahe ein wenig zu lüften, um hinausblicken zu können. Da draußen ritt – – Ali Manach Ben Barud el Amasat, der Derwisch. Es war anzunehmen, daß auf der andern Seite sich noch ein zweiter Wächter befand.
Mein Plan war schnell gemacht. Die Begleiter des Wagens waren mit Schießwaffen versehen; ich mußte also vorerst jeden Kampf vermeiden und mich mehr auf die List als auf Körperkraft verlassen. Ich rückte also wieder ganz nach hinten und hielt die Hände immer unter dem Heu. Unter dessen Schutz begann ich, den unteren Theil der alten, morschen Korbwand auszuschneiden, und hatte nach Verlauf einer Viertelstunde eine Öffnung fertig, welche groß genug
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