Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
beklagenswerther und entsetzlicher, je weiter zurück er greift in die Jahre der Jugend oder gar der frühen Kindheit. Ein Waisenkind! – der Klang dieses Wortes erweckt in jedem warmklopfenden Herzen die Regungen des aufrichtigsten Mitgefühles und läßt ein Dankgebet zum Himmel steigen aus jedem Munde, welcher den süßen »Vater«- oder »Mutternamen« noch aussprechen darf. Darum ist es auch gar nicht zu verwundern, daß die Liebe mit treuem Fleiße das Feld bebaut, welches sich hier ihrer Thätigkeit öffnet.
Der fruchtbarste Baum, welcher auf diesem Felde gezogen wird und seine Aeste so weit ausstreckt, wie nur die menschliche Gesittung ihre Wurzel schlägt, beschattet alle diejenigen Anstalten, welche der Unterbringung und Versorgung aller derjenigen Beklagenswerthen gewidmet sind, denen ein unfreundliches Schicksal die Eltern genommen hat. Zwar gab es schon unter Trajan, den beiden Antoninen und Alexander Severus mehrfache wohlthätige Stiftungen, durch welche für die Waisen gesorgt wurde, die eigentlichen Waisenhäuser aber sind eine Frucht des Christenthums. Die erste dieser Anstalten baute Kaiser Alexius im Jahre 1090 zu Constantinopel, und im Mittelalter erwarben sich die durch Handel und Gewerbe sich auszeichnenden Städte große Verdienste um das Waisenwesen. In Deutschland kamen die ersten Waisenhäuser im 16. Jahrhundert auf, und die berühmteste derartige Stiftung späterer Zeit war das von August Hermann Franke gegründete Waisenhaus zu Halle.
In neuerer Zeit hat man den Werth dieser Häuser sehr in Zweifel gezogen. Wenn die Verpflichtung, Beaufsichtigung und Erziehung der Kinder nicht in die Hand tüchtiger, liebevoller und gewissenhafter Personen gelegt wird, so werden die Zöglinge sowohl körperlich als auch geistig vernachlässigt, und es ist eine allerdings nicht zu bestreitende Thatsache, daß sich in den Waisenhäusern gewöhnlich eine ungewöhnlich hohe Sterblichkeitsziffer herausstellt. Eine genaue Aufsicht so vieler Kinder ist, wenn sie wirklich durchgeführt werden soll, immer mit einer verhältnißmäßig zu großen Strenge verbunden und reizt zum erziehungsfeindlichen Widerstand. Außerdem ist gar nicht zu läugnen, daß durch das stete Zusammenleben einer zahlreichen Kinderschaar gewissen geheimen Sünden Vorschub geleistet wird. Alles dasselbe gilt auch von den den Waisenhäusern sehr nahe verwandten Findelhäusern, und so ist die Ansicht, die Waisen in gute Familien zur Pflege zu geben, ganz gewiß eine sehr wichtige und begründete.
Keine Anstalt, und sei sie noch so gut geleitet, vermag die Familie zu ersetzen, und es ist deshalb recht wünschenswerth, daß kinderlose Ehen sich denjenigen armen Wesen öffnen möchten, welche auf den Blick eines warmen Mutterauges und das mahnende Wort eines besorgten Vaterherzens verzichten müssen. Die Eltern- und Kindesliebe ist nicht allein eine Frucht und Folge der Geburt; sie ist auch ein Kind des Mitleides und der Mildthätigkeit, und ist es nicht schwer zu entscheiden, welche That größer und lobenswerter sei: ein Kind zu gebären, oder ein Kind der Verlassenheit zu entreißen, um ihm den traurigsten und unverschuldeten Verlust zu ersetzen. »Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solcher ist das Himmelreich,« sagt Christus, und wenn man aus diesen Worten einen Befehl zur Kindertaufe hat lesen wollen, so klingt aus ihnen doch noch viel deutlicher der Ruf und die ernste Ermahnung zur Wohlthätigkeit an den verlassenen und verwaisten Kleinen. – Hat dieses Wort nur ein einziges Herz für den Entschluß geöffnet, ein kleines, vereinsamtes Wesen mit elterlicher Liebe zu beglücken, so ist seine Aufgabe erfüllt und das Bestreben des Verfassers reichlich belohnt.
Die schönste und höchste Aufgabe der elterlichen Liebe besteht in der Erziehung; desto bedauerlicher aber ist es, daß sich grad’ ihr so viele und leider nur so schwer zu beseitigende Hindernisse in den Weg stellen. Eines der bedeutendsten Hinternisse liegt in der Unfähigkeit der Eltern, ihren Kindern die rechte Geistes- und Herzenspflege angedeihen zu lassen. Ein Trost liegt hier in dem gläubigen Gedanken, daß hinter jedem kleinen Menschenkinde ein guter Engel stehe, der seine Hand beschützend und behütend über dasselbe hält und selbst das Böse und Schlimme zum Guten zu lenken sucht. Nur der göttlichen Vorsehung scheint es zuzuschreiben zu sein, daß trotz der oft mangelhaften Erziehung aus Familien von anerkanntem Leichtsinne oder
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