Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
stumpfen Nasen, die Thracer Göttern mit blauen Augen und rothen Haaren, und, wenn Ochsen und Löwen Hände hätten, um Bilder zu machen, so würden sie Gestalten zeichnen, wie sie selber sind.« – Deshalb geht auch die geschichtliche Entwickelung der Religionen Hand in Hand mit der Geschichte der Menschheit überhaupt.
Die psychologische Natur aller Menschen ist dieselbe, und so begannen die Religionen fast immer mit dem Bilderdienste, so daß sich in den verschiedensten Gegenden unserer Erde Religionsgebräuche entwickelten, welche einander auffallend ähnlich sind.
Bei den Urmenschen und bei Menschen, welche sich auf einer niedrigen Entwickelungsstufe befinden, herrscht die Religion der Furcht. In einem höheren Zustande übernehmen bevorzugte Menschen, wie z.B. Könige, Oberpriester etc., eine Vermittelung mit Gott, wobei aber die Form der Knechtschaft stattfindet, und erst in späteren Zeiten kommen die Menschen auf die Vorstellung der Gottähnlichkeit, und es kommt dann die Liebe zur Herrschaft, welche bei dem Christenthume in dem Gebote gipfelt: »Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und mit allen deinen Kräften, und deinen Nächsten als dich selbst.«
Ein jedes Religionsbekenntniß zeigte sich bisher als ein Kind seiner Zeit und wurde von der Zukunft zu Grabe getragen, und es ist daher ein beklagenswerther Irrthum zu nennen, wenn die Bekenner der meisten Gottesculte gerade den ihrigen als den absolut vollkommenen und richtigen, jeden andern aber als falsch ansehen. Von diesem Standpunkte aus ist die Lehre von einer alleinseligmachenden Kirche zu betrachten. »Die Religionen sind verschieden, die Vernunft aber ist nur eine,« lautet ein chinesischer Ausspruch und es wird die Wahrheit desselben durch den Umstand unterstützt, daß, wie in der organischen Natur, es auch hier nicht an Rückfällen in frühere Zustände, zu früheren Anschauungen fehlt. Schon bei den Thlinkithianen im früheren russischen Amerika begegnen wir dem Mythus der Gottessohnschaft, auf welchen das Christenthum zurückging, und bei Confucius, Zoroaster, Buddha, Lao-tse finden wir Vorstellungen von der edelsten und reinsten Art, zu denen wir uns eine Rückkehr wünschen möchten.
»Der persönliche Gott,« sagt einer unserer scharfsinnigsten Forscher, »ist eine überlieferte Gefühls- und Glaubensangelegenheit ohne jede thatsächliche Grundlage, und er ist auch nicht eine nothwendige Bedingung für ein sittenreines und menschenwürdiges Leben. Wenn man gegenwärtig eines solchen Gottes für das Volk noch nicht entbehren zu können meint, so ist dies nur ein trauriges Zeichen von dem geistig noch sehr niedrigen Standpunkte desselben, so daß ihm jedes Verständniß für tiefere Wahrheit noch abgeht. Wäre die Freiheit der Entwickelung der Völker durch privilegirte Kasten nicht von jeher gehemmt worden, so würden wir nach so langem Ringen schon weiter sein in der Erkenntniß der Wahrheit.
Die Orthodoxie hat bei den wunderbaren Erscheinungen in der ganzen Natur und bei den überwältigenden Eindrücken, welche die meisten auf das Gemüth machen, (wie die Pracht des Regenbogens und Polarlichtes, der blendende Glanz des Blitzes, das Rollen des Donners, das Grauen des Erdbebens etc.) im Volke, wenn sie von einem persönlichen Gotte spricht, so lange ein leichtes Spiel gehabt, als die geistige Stufe desselben nur eine noch niedrige war. Von dem Gewande dieses Gottes fällt aber ein Stück nach dem andern mit dem Auftreten der exacten Wissenschaften, und es tritt dafür ein unpersönlicher allgewaltiger Gott auf, welcher, mit dem Kleide der Wahrheit angethan, nicht blos gegenstandslose Gefühle, sondern auch den Verstand befriedigt, und zwar so stark, daß wir auf die Irrwege der Abgötterei nicht mehr kommen können und die Verketzerungssucht ihren Boden verliert.
Wir erkennen in der ganzen Natur niemals das Schaffen eines persönlichen Gottes, eines ›Schöpfers Himmels und der Erde‹, sondern überall nur schrittweise Entwickelung nach Naturgesetzen. Die Naturgesetze aber sind theils durch die inductive Methode gewonnen, theils durch mathematische Schlüsse entdeckt worden. Erfahrung und Wissenschaft unterstützen einander, um die Naturgesetze zu erkennen und aufzustellen. Sind dieselben aber als unfehlbar richtig erkannt, so kann man an ihrer Hand die Welt synthetisch aufbauen, Stein zu Stein fügen und Schritt für Schritt nicht blos die Vergangenheit ableiten, sondern auch einen Blick in die Zukunft thun, weil die
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