Delphi Saemtliche Werke von Theodor Fontane (Illustrierte) (German Edition)
wieder vergessen werden kann. Im Nordwesten sank die Sonne hinter den Tiroler Alpen unter und vergoldete diese. – Vom Campanile an die Riva delli Schiavoni. Platz genommen im Café Orientale. Eis, Absinth, Musik aller Art. Echt venezianisches Volkstreiben: Kaufleute, Juden, liederliche Frauenzimmer, Matrosen, Soldaten, Tassengeklapper und Gitarren-Geklimper; dazwischen wundervoller, gutgeschulter Gesang von zehn, zwölf Schiffern, die, Kreis schließend, in Nähe des Cafes sich aufstellten. – Um 8 Uhr nach Haus. Mit Emilie im Restaurant Bauer gegessen.
Mittwoch den 7. Oktober. Dritter Tag in Venedig.
Brief: An Karl und Emilie Zöllner, Venedig, 7. Oktober 1874
Emilie Fontanes Aufzeichnungen vom 7. Oktober
Mit Novilles im Hôtel gefrühstückt. – Um 10 zu Antonio Salviati am Canal grande, dem Wiederhersteller der alt-venezianischen Glas- und Mosaik-Kunst. A. v. Werners Bild gesehen, an dessen Ausführung in Mosaik ein halbes Dutzend Künstler beschäftigt waren. Drei Stunden dort geblieben. Das Ganze sehr lehrreich und sehr interessant. Von Salviati in die Academia delle belle Arti. Nur 10 Minuten vor der »Assunta« geblieben, diesmal mit einem guten Glas bewaffnet. Die erhabene Schönheit dieses Bildes ging plötzlich vor mir auf. Es ist ganz und gar No. 1; ein Triumph der Kunst; die alte Phrase von der »Göttlichkeit der Kurist«, die jeder braucht, der drei Leberwürste malen kann, hier hört sie auf, Phrase zu sein; dies ist ein Göttliches und faßt das Menschenherz ganz anders als 7 Bände Predigten. Ich kann mich nicht entsinnen, durch irgendeine Gestalt je so berührt worden zu sein, selbst die Sixtinische Madonna kaum ausgenommen. In letztrer ist etwas Fremdes, über das Menschliche schon Hinausgehende; hierin mag ihre besondere Größe liegen, aber was unser Herz am tiefsten bewegt, muß immer wieder ein Menschliches sein, und das haben wir in dieser Tizianischen Maria. Bei allem Seligsein im Schauen Gottes verbleibt der Gestalt doch etwas Schön-Menschliches. Es ist immer noch ein Weib, keine Himmelskönigin. Darin steckt der Reiz. Der Unterschied zwischen dieser Tizianischen Assunta und der in Verona (die auch außerordentlich schön ist) liegt äußerlich darin, daß die letztre zu den Jüngern hinunter , jene zu Gott hinaufsieht . Daraus entwickelt sich alles Weitere. Freilich mußte es ein Tizian sein, um die Aufgaben so zu lösen. In dem einen Bilde gibt sie, in dem andern empfängt sie; in jenem lächelt und beseligt sie, in diesem wird sie beseligt in demütigem Aufschauen zu Gott.
Am Nachmittage mit den Damen zusammen nach San Giovanni e Paolo, eine Kirche, die mit der Schule San Marco einen rechten Winkel bildet. Auf dem kleinen Platz in Front und Flanke der Kirche steht die berühmte Reiterstatue des Generals Colleoni, ein Meisterwerk ersten Ranges. Schön, eigentümlich, lebensvoll. Die Kirche San Giovanni e Paolo selbst enthält sehr viele Dogen-Grabmäler; einzelne sitzen zu Roß, andre liegen auf dem Sarkophag, doch ist mir keines dieser Steinbilder als etwas ganz Besondres im Gedächtnis geblieben. Man muß in der Geschichte Venedigs fester, mit den einzelnen Trägern berühmter Namen vertrauter sein, um diesen Denkmälern ein größres Interesse abzugewinnen.
Um 6 mit Novilles ins Hôtel zum Diner. Bei Tisch trifft die Nachricht von Graf Arnims Verhaftung ein. Partielle Aufregung. – Um 9 auf den Marcusplatz. Gelato bei Florian. Militär-Musik.
Donnerstag d. 8. Oktob. Vierter Tag in Venedig.
Emilie Fontanes Aufzeichnungen vom 8. Oktober
Um 10 Uhr in den Dogen-Palast. Ein wunderbarer Bau. Die kurzen Säulen des Erdgeschosses, die phantastisch ornamentierten des I. Stockes, dann endlich der nur von sechs breiten gotischen Fenstern unterbrochene, in längliche Vierecke abgeteilte Riesen-Marmorwürfel, der von den Säulengängen des Erdgeschosses und I. Stockes getragen wird, wirken zauberhaft. Es erinnert an Bilder, auf denen Luftgestalten irgend etwas Schweres und Massiges, einen prächtigen Sarkophag, einen Reliquienschrein oder einen Tempel tragen. Der Eingang ist von der Piazetta aus. Man steigt die Scala dei Giganti hinan und ist nun auf der Galerie, deren Säulen den ersten Stock umziehn. Zwei dieser Säulen sind rot. Von dieser Stelle aus wurden die Todesurteile verkündet oder vielleicht auch nur angekündigt, daß sie vollzogen seien. Geht man bis an das Ende der Galerie, so hat man einen prächtigen Blick auf das Wasser und San Giorgio Maggiore.
Von
Weitere Kostenlose Bücher