Delphi Saemtliche Werke von Theodor Fontane (Illustrierte) (German Edition)
steigerndem Genuß. Es war die Darstellung eines armen, angesäuselten Bummlers, der in einen Omnibus steigt, und als er zahlen will, seinen Groschen verliert und nun unter rührender Teilnahme des ganzen Publikums nach diesem Groschen zu suchen beginnt, bis er zuletzt, weil die Abfahrtszeit schon weit überschritten ist, doch wieder heraus und an die Luft muß. Ich war jedesmal, während ich Tränen lachte, doch auch wieder von einem tiefen Mitgefühl mit dem armen Kerl erfüllt, der bis zuletzt die Hoffnung nicht aufgeben wollte.
Solche, abwechselnd mit Karikaturen aus dem high life und dann wieder mit Bummlern und Rowdies sich beschäftigenden Geschichten waren seine Spezialität, aber ebenbürtig daneben standen seine Kinder- und Schauspielergeschichten. Wenn ich sage Schauspielergeschichten, so ist das nicht ganz richtig, denn er erzählte nicht etwa die herkömmlichen Theateranekdoten; alles, was er gab, waren vielmehr nur ganz alltägliche Begegnungen mit zur Bühne gehörigen Personen. Mit Berndal war er jahrelang auf der Schule zusammen gewesen; immer auf derselben Bank, und so nahmen sie sich gegenseitig nichts übel. Jedesmal wenn sie sich trafen und eine Strecke miteinander gingen, sagte Lucae: »Berndal, ich weiß nicht, du sprichst immer noch so theatermäßig mit mir; sprich doch mal wie ein Mensch«, worauf dann Berndal mit derselben Regelmäßigkeit antwortete: »Lucae, du bist immer noch so komisch wie damals.« Neben Berndal stand Dessoir, und die lugubren, immer gerade die schlimmsten Trivialitäten begleitenden Dessoirschen Töne durch Lucae nachgeahmt zu hören, war jedesmal ein Hochgenuß. Einmal traf es sich, daß Dessoir und Lucae gemeinschaftlich von Hamburg nach London fuhren. Sie schritten auf Deck auf und ab. »Kennen Sie London?« fragte Dessoir. – »Nein.« – »Nun, da gehen Sie dem Wunderbarsten entgegen. London, um nur eines zu nennen, hat dreitausend Omnibusse, wir haben deren fünfzig.« Außer Berndal und Dessoir zählte zu Lucaes Lieblingsfiguren ein Herr von Lavallade, den er nicht müde wurde, sich in einer im schnarrendsten Leutnantsjargon an eine Heldenschar gerichteten Ansprache dem Tode weihen zu lassen. Er wußte bei Vorführung solcher Szenen immer ganz wundervoll den Ton zu treffen, aber das, worauf es ihm eigentlich ankam, war doch noch mehr das Treffen der gesamten Schauspielerpersönlichkeit, und darin ruhte vor allem die frappante Wirkung.
Lucae war, auf seine Liebenswürdigkeit und mehr noch auf seine Talente gestützt, ein allgemeiner Gesellschaftsliebling und hatte Anspruch darauf wie wenige. Und doch bildete die »Gesellschaft«, dieser Schauplatz seiner Triumphe, zugleich den Schauplatz seiner Niederlagen. Er war der artigste Mensch von der Welt und verfiel trotzdem, ganz ohne Wissen und Schuld, beständig in Taktlosigkeiten; er war der friedliebendste Mensch und hatte jeden Tag kleine und mitunter auch große Streitigkeiten; er war der politisch vorsichtigste Mensch und stieß politisch immer an. Wohlerzogenheit, natürliche Klugheit, gute Sitte – nichts half. Wer das Leben beobachtet hat, wird wissen, daß das öfter vorkommt und daß über einzelnen, und zwar immer ganz harmlosen Menschen ein eigener derartiger Unstern steht; gehöre selber mit dazu, kann also darüber mitsprechen und bin in zurückliegenden Jahren oft sehr unglücklich darüber gewesen, bis mir einmal ein alter Geheimrat unter resigniertem Achselzucken sagte: »Ja, lieber Freund, dagegen ist nichts zu machen. Wem das anhaftet, der muß sich drin finden. Ich bin um gute zwanzig Jahre älter als Sie, aber ich komme auch nicht draus heraus; es ist ein tragikomisches Verhängnis.« Von dem Tage an wurde ich ergebener; aber was mich vielleicht noch mehr beruhigte, war doch die sich mir gerad um ebendiese Zeit aufdrängende Wahrnehmung, daß ich neben meinem Freunde Lucae nur ein Stümper war.
Ich greife zur Illustrierung hier ein paar Beispiele heraus.
Einmal war er in eine große Ministerialgesellschaft geladen, und unter den Geladenen befand sich auch ein hannoverscher Graf, reich, klug, hoch angesehen, der, im Gegensatz zu so vielen anderen seiner Landes- und Standesgenossen, allen Welfismus abgetan und sich zu Preußen und König Wilhelm bekehrt, ja sogar bald nach der Einverleibung Hannovers ein hohes Staatsamt übernommen hatte. Der Graf saß Lucae gegenüber, die Komtesse-Tochter neben ihm. Er plauderte lebhaft und unterhaltlich mit seiner liebenswürdigen Nachbarin, und als der
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