Delphi sehen und sterben
festhängen. Aber hat er überhaupt eine Chance?«, fragte ich. »Wie lauten die Regeln für Bewerber? Wer darf denn eigentlich Fragen stellen?«
»Als Erste die Bürger von Delphi, dann Leute, denen Delphi ein Vorrecht eingeräumt hat …«
»Offizielle Vordrängler? Wie kommt man dazu, einer davon zu werden?«
»Zweifellos durch Geld«, schnaubte Helena. »Und schließlich der Rest, durch Losentscheid.«
»Mit so viel Chancen wie Kuckucksspucke!«
Wir hatten unsere Nasen bereits ins Tempelinnere gesteckt und waren von der inneren Cella weggescheucht worden. Pflichtbewusst hatten wir uns die legendären Sinnsprüche angesehen: Erkenne dich selbst und Nichts im Übermaß. Wir hatten die unvermeidlichen Witze über delphische Fremdenführer gemacht, die beides missachteten. Nun fanden wir einen Platz auf den Stufen im Schatten einer Säule, wo wir uns ausruhten, unsere Knie umschlossen und die majestätische Aussicht in uns aufnahmen. Ich wünschte, wir hätten ein Picknick mitgebracht. Um mich von meinem quälenden Hunger abzulenken, erzählte mir Helena, was sie über die Rituale des Orakels wusste.
»Prophezeiungen haben hier eine lange Geschichte. Da gibt es eine Erdspalte, aus der Dämpfe austreten, welche die Menschen hellsichtig machen. Die Priesterin, die Pythia, war in alten Zeiten eine jugendliche Jungfrau, muss aber heutzutage mindestens fünfzig sein.«
»Wie enttäuschend!«
»Sie ist nicht dein Typ. Sie muss im Heiligtum leben, sich tadellos benehmen …«
»Mir sind schon viele dieser sogenannten tadellosen Jungfrauen begegnet. Ich hab sie alle rumgekriegt.«
»Wirklich?«
»Na, das solltest du doch wissen, Helena!«
Helena war an meine Scherze gewöhnt. »Bewerber – die erfolgreichen – werden in der Kastaliaquelle gereinigt und müssen dann einen Obolus bezahlen, der variabel ist, abhängig von ihrer Frage.«
»Oder abhängig davon, wie scharf die Priester auf die Antwort sind«, meinte ich zynisch.
»Ich stelle mir vor, dass die Bewerber alle ziemlich verzweifelt sind, Marcus. Wie auch immer, sie müssen dann ein Opfer darbringen, für gewöhnlich ein Zicklein. Es wird mit kaltem Wasser begossen; wenn es zittert, ist der Gott zu Hause und zugänglich für Fragen. In dem Fall reinigt sich die Pythia ebenfalls mit kastalischem Wasser und betritt den Tempel. Sie verbrennt Lorbeer und Gerstenmehl auf der Herdstelle mit dem ewigen Feuer. Dann steigt sie in einen Raum unter dem Hauptschiff hinab, während die Priester und der Bewerber in der Nähe warten. Der Bewerber stellt seine Frage mit lauter, klarer Stimme. Die Priesterin trinkt noch mehr Wasser aus der Kastaliaquelle, kaut Lorbeerblätter, setzt sich auf den heiligen Dreifuß neben dem Umbilikus – dem Nabel der Welt – und fällt, während die Dämpfe aus der Spalte aufsteigen, in eine tiefe Trance. Sie spricht, aber es ist unverständlich.«
»Typisch Frau!«
»Drecksack. Die Priester schreiben es auf und übersetzen das Gebrabbel dann in Worte – überlassen einem die Interpretation aber selbst. Typisch Mann«, gab Helena geschickt zurück.
Ich kannte ein Beispiel. »›Wenn Krösus den Halys überschreitet, wird er ein großes Reich zerstören.‹ Krösus beschließt begierig, dass es das der Perser sein muss, also stürmt er mit einer Armee los. Natürlich vernichten ihn die Perser, und er zerstört sein eigenes Königreich.«
»Während das Orakel kichert. ›Hab’s dir doch gesagt!‹ Die Schutzklausel lautet jedoch, dass das Orakel von Delphi ›die Wahrheit niemals enthüllt oder verbirgt‹, Marcus. Wer Antworten haben will, muss die Bedeutung selbst enträtseln.«
»Genau wie bei meiner Mutter, wenn man sie fragt, was sie als Saturnaliengeschenk haben möchte … Allerdings braucht Mama keine Lorbeerblätter zu kauen, um wirr zu klingen.«
Plötzlich dachten wir an zu Hause. Wir verfielen eine Weile in Schweigen.
»Also«, sagte ich, »selbst wenn Tullius Statianus bei der Lotterie gewinnt, würde das Orakel ihm nie eine eindeutige Antwort geben auf die Frage: ›Wer hat Valeria getötet?‹. Die Pythia wird sich nach allen Seiten absichern und den Namen in Ausflüchte kleiden.«
»Woher sollte sie es denn auch wissen?«, höhnte Helena. Immer logisch, nie mystisch. »Eine ältere griechische Dame, die auf einem Berg lebt, ständig beduselt von Schwefeldämpfen, völlig übergeschnappt durch aromatische Blätter!«
Ich liebte dieses Mädchen. »Ich hatte angenommen«, erwiderte ich milde, »dass
Weitere Kostenlose Bücher