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Delphi sehen und sterben

Delphi sehen und sterben

Titel: Delphi sehen und sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lindsey Davis
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die unverständliche Pythia ein Tarnmanöver ist. Ihr überirdisches Gestöhne ist nur Ablenkung. In Wirklichkeit läuft es so ab, dass die Priester, sobald ein Bewerber sich vorstellt, rasch Nachforschungen über ihn anstellen und dann
selbst
die Prophezeiungen erfinden, basierend auf dem, was sie herausbekommen haben.«
    »Klingt genau wie deine Arbeit, Marcus.«
    »Sie werden besser bezahlt!« Ich war missmutig. »Ich habe mal von einem Mann gehört, der das Modell einer redenden Schlange konstruiert hat und sie dann gegen ein enormes Entgelt die Frage von Leuten beantworten ließ. Damit hat er ein Vermögen verdient. Ich würde mehr verdienen und sicherlich mehr Prestige gewinnen, wenn ich mich für tausend Sesterzen pro Antwort in ein Orakel verwandelte.«
    Helena wirkte nachdenklich. Einen Moment lang überlegte ich, ob sie den Vorschlag zu ernst nahm, und plante, mich an Markttagen in eine Bude zu setzen. Dann packte sie mich am Arm.
    »
Ich
werde eine Prophezeiung machen, Marcus! Siehst du den jungen Mann da drüben, der sich mit einem der Tempeldiener streitet, die das alles schon mal gehört haben? Ich würde sagen, das ist Tullius Statianus.«
     
    XLI
    Was Wortwechsel betrifft, so war dieser einseitig. Der junge Mann setzte sich verzweifelt für seine Sache ein. Der Tempeldiener ließ derweil seinen Blick schweifen, in Vorbereitung darauf, andere Leute willkommen zu heißen.
    Wir wussten, dass Statianus vierundzwanzig war. Das passte. Wenn er es war, dann war er körperlich wenig bemerkenswert. Er trug eine weiße Tunika, die aussah wie seit einer Woche nicht gewechselt, dazu eine runde Reisemütze, in die er sich wie ein Mann schmiegte, dem nach schwerer Krankheit oder Schock nie wieder warm werden würde. Obwohl nicht formell zerzaust wie Prozessführer oder Menschen, die in Rom zu einer Bestattung gehen, war sein Haar zu lang und kaum gekämmt.
    Der Tempeldiener versuchte ihn beiseitezuschieben, indem er mit einem gekonnten Ausfallschritt auf jemand anderen zutrat.
    »Es gibt noch andere Orakel!«, hörten wir Statianus wütend rufen. Helena und ich zogen uns gegenseitig von unserem Sitz auf den Stufen hoch und sprangen dann auf seine Ebene hinunter.
    »Statianus? Entschuldigen Sie …«
    Etwas an uns alarmierte ihn. Nach einem furchtsamen Blick auf uns rannte Statianus los.
     
    Falls Sie nie einen Flüchtigen durch eine sehr alte religiöse Stätte gejagt haben, lautet mein Rat: Tun Sie’s nicht. In Rom tauchen die Leute beim kleinsten Anzeichen auf ein Gerangel mit einem Taschendieb hinter die nächste Säule weg, damit ihre besten Stiefel nicht zerkratzt oder ihre Togen in dem Gedrängel nicht zerrissen werden. Besucher ausländischer Heiligtümer gehen nicht aus dem Weg.
    Mir wurde klar, dass wir nur wenig über diesen Mann wussten. Ich hatte angenommen, er sei verzogen, der faule Sohn reicher Eltern. Seine Hochzeitsreise nach Griechenland war eine Entschädigung dafür, nicht für den Senat aufgestellt zu werden. Politik aus dem Weg zu gehen konnte bedeuten, dass es ihm an Intellekt mangelte (oder dass er zu viel gesunden Menschenverstand besaß). Mehr hatten wir nie herausgefunden. Jetzt bekam ich mit, dass Statianus auf sich achtete. Er musste im Gymnasion trainiert haben – und er nahm das ernst. Der Bräutigam konnte rennen. Wir brauchten einen durchtrainierten Glaucus. Sonst würden wir diesen Verdächtigen verlieren.
    Direkt unterhalb des Apollontempels kamen Leute im Schneckentempo den Heiligen Weg herauf, traurige Gruppen von Besuchern, von denen manche stehen geblieben waren, um ihren unermüdlichen Führern zuzuhören. Die Menge brachte Statianus dazu, seitlich auszuweichen. Er sauste vom Tempelportikus weg. Hohe Säulen trugen Statuen diverser griechischer Könige. Sie ergaben hervorragende Wendemarken für einen Slalomlauf. Statianus schien den Lageplan genau zu kennen. Er flitzte zwischen den Monumenten hindurch und schubste Pilger beiseite, die pflichtbewusst himmelwärts starrten, während ihre Führer die steinernen Würdenträger beschrieben. Sekunden später krachte ich in diese Leute, die sich gerade verärgert umdrehten, nachdem Statianus sie beiseitegeschubst hatte.
    Wir sprangen eine Ebene tiefer, zu dem erstaunlichen Dreifuß von Platäa, dessen drei ineinandergewundene Bronzeschlangen einen gewaltigen goldenen Kessel stützten. Daneben befand sich ein großer Sockel, der einen goldenen Streitwagen der Sonne trug. Statianus versuchte sich dahinter zu verstecken. Als ich

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