Delphi sehen und sterben
Haarstil des Wesens. »Das berühmteste Rätsel lautet: Was geht am Morgen auf vier Füßen, am Mittag auf zweien und am Abend auf dreien?«
»Der Mensch! Krabbelt, geht, benutzt einen Stock …« Ich hatte die Schnauze voll. Ermittler sind bekanntermaßen ruppig. Manchmal bemühe ich mich, das Klischee zu kippen, aber heute nicht. Ich wünschte, ich hätte selbst einen Stock, um den Führer zu verprügeln. »Erspar dir das. Schau her! Ich geb dir das hier …« Die Münze, die ich ihm anbot, war dreimal mehr wert als er. »Jetzt lass uns bitte in Ruhe.«
»Gefällt Ihnen meine Führung nicht?« Der Kerl tat ganz erstaunt.
Privatschnüffler, die unauffällig sein müssen, halten sich an Benimmregeln. In Heiligtümern, die der Toleranz gewidmet sind, vermeide ich es, in Boxkämpfe verwickelt zu werden. Ich blieb ruhig und besonnen. »Wir möchten mit den Göttern im Stillen kommunizieren. Also lauf den Hügel wieder runter und schnapp dir jemand anderen.«
»Aber Sie brauchen einen Führer!«
Scheiß auf Benimmregeln. »Und du brauchst einen Tritt in den Arsch, wenn du nicht verschwindest.«
Er verschwand.
Andere Touristen hatten unsere Rebellion mit Interesse verfolgt. Untergruppen drängten sich zusammen; wir sahen, wie gemurmelt und dann Schultern gestrafft wurden, um in Aktion zu treten. Bald brach um die antike Höhle des Python überall Streit aus. Die Götter der uralten Erde und die Gottheiten unterirdischer Gewässer müssen vor Freude gegurgelt haben, als normalerweise zaghafte Touristen sich gegen ihre Führer erhoben und sie wegjagten. Apollon, der Vermittler des Maßhaltens, zupfte an den Saiten seiner Lyra und frohlockte.
Ich hatte kein schlechtes Gewissen, eine Rebellion angezettelt zu haben. Die verdammten Führer würden morgen wieder da sein und neue Opfer langweilen.
Helena und ich blickten Hand in Hand zu der Sphinx auf, froh darüber, eine berühmte Statue ungestört bewundern zu können.
»Sie erinnert mich auf gewisse Weise an dich, mein Liebling. Wunderschön, anscheinend unnahbar und mysteriös – und natürlich klug.«
»Wenn auch älter!«, erwiderte Helena gehässig.
Die altehrwürdige Sphinx zeigte keine Reaktion, aber da ich sie für eine Dame von Welt hielt, zwinkerte ich ihr zu.
Wir folgten dem Heiligen Weg nun im eigenen Tempo.
Der schmale Pfad wand sich hinauf, die abgetretenen Steine manchmal gefährlich rutschig. Delphi hätte einen römischen Straßeninstandhaltungstrupp brauchen können. Befreit von der Pflicht, jedes Detail aufzunehmen, eilten wir an Altären, Säulen, Dreifüßen, Portiken und Siegesdenkmälern vorbei und blieben nur stehen, um die hochaufragende Statue Apollons neben der Kassotisquelle zu bewundern. Endlich hatten wir den Tempel erreicht. Wir hörten, wie Führer die vielen vorherigen Versionen des Gebäudes auflisteten (»zuerst aus Lorbeer geflochten, dann aus Bienenwachs und Bienenflügeln gemacht, dann aus Bronze, dann aus porösem Stein im dorischen Stil …«). Sie zählten weitere dieser suspekten Einzelheiten auf, aber ich hörte nicht mehr zu. (Ich bin total für Mythen, aber versuchen Sie mal, in einer freien Stunde eine Gartenlaube aus Bienenflügeln zu bauen!) Wir machten einen raschen Rundgang, betrachteten die Ostfassade mit der Szene von Apollons Eintreffen in Delphi und die Westfassade mit Dionysos und den diversen Mänaden.
»Apollon verbringt die Winter bei den Hyperboreern«, sagte Helena.
»Hyper was?«
»Boreern – Menschen hinter dem Nordwind. Frag mich nicht, warum. Für was hältst du mich, Marcus, für eine verdammte Fremdenführerin?«
»Ich glaube, du wirst herausfinden«, feixte ich, »dass dieser Mythos die Abwesenheit der Sonne – oder des Lichtes, vertreten durch Apollon selbst – während des Winters symbolisiert.«
»Na, vielen Dank, du Enzyklopädist! Wie auch immer, während Apollon auf Urlaub ist und sich unter seinen Überwürfen Erfrierungen holt, übernimmt Dionysos Delphi. Das Orakel macht Pause, und im Heiligtum wird gefeiert.«
»Klingt wie ein Riesenspaß.«
»Klingt wie sehr schlechte Nachrichten für Statianus«, sagte Helena, »falls er immer noch in der Frageschlange steht. Orakel werden an Apollons Geburtstag verkündet, der in den Februar oder März fällt, glaube ich, und danach nur an jedem siebten Tag des Monats. Wenn sie also im Winter dichtmachen, wird Statianus keine Chance mehr haben.«
»Das Oktober-Orakel ist vorbei, und er wird hier bis nach den Saturnalien
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