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Delphi sehen und sterben

Delphi sehen und sterben

Titel: Delphi sehen und sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lindsey Davis
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ein schreckliches Unglück hatte erleiden müssen, konnte sich von dieser Umgebung durchaus angezogen fühlen. Nach der Hektik im Heiligtum und dem geschäftigen Treiben im Gymnasion war dies ein einsamer Aufstieg, bei dem die Sonne und der Duft der Wildblumen wie eine beruhigende Arznei auf einen gequälten Geist wirken würden. Ich vermutete, dass sich Statianus, sobald er das Stadion erreicht hatte, ins Gras legte und sich in Gedanken verlor. Beim Gehen kann man denken, aber beim Laufen meiner Erfahrung nach nicht.
    Auch ich dachte nach, während ich ging, hauptsächlich über das, was mir Lampon erzählt hatte. Turcianus Opimus, der Invalide der Reisegruppe, hatte mehr über Valerias Mörder erfahren, als es dem Mörder recht sein konnte. Nach der Beschreibung des Dichters könnte er sogar erkannt haben, wer der Mörder war. Wem hatte er davon erzählt? War er jemals frei genug von Schmerzmitteln gewesen, um zu begreifen, über welche Information er verfügte? Vielleicht hatte etwas, das er gesagt oder getan hatte, zu seinem Tod in Epidauros geführt. Oder er konnte doch eines natürlichen Todes gestorben sein – aber jemand hatte geglaubt, er habe die Geschichte des Dichters an Cleonymus weitergegeben.
    Ich überlegte, ob der Dichter selbst in Gefahr war. Verdammt. Trotzdem, soweit ich wusste, war der Mörder in Korinth.
    Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass Lampon vermutlich sowieso ein schlechter Dichter war.
     
    Ich ließ mir Zeit. Wenn Statianus hier oben war, schön und gut. Wenn nicht, hatten wir ihn tatsächlich verloren. Ich wartete damit, mir Vorwürfe zu machen, bis ich mich vergewissert hatte. Das würde noch kommen. Jeder Schritt, den ich tat, überzeugte mich mehr, dass er vor mir davongelaufen war. Falls er Delphi verlassen hatte, würde ich keine Ahnung haben, wo ich nach ihm suchen sollte.
    Ich war mir so sicher, ganz allein zu sein, dass ich auf die grauen Steine pinkelte und dabei nicht mal den Pfad verließ. Ein Gecko sah mir nachsichtig zu.
    Ich wünschte, Helena wäre hier. Ich wollte die phantastische Aussicht mit ihr zusammen bewundern. Ich wollte sie halten und streicheln, wollte mit ihr die Ruhe und den warmen Sonnenschein an diesem isolierten Fleck genießen. Ich wollte nicht mehr an Todesfälle denken, die unlösbar schienen, an Kummer, der nie gelindert werden konnte, an Brutalität, Furcht und Verlust. Ich wollte Statianus im Stadion finden. Ich wollte ihn davon überzeugen, Vertrauen zu haben. Die Qual, die er gestern enthüllt hatte, setzte mir zu.
    Hier allein mit dem Gecko und den in der Ferne kreisenden Bussarden zu stehen machte mir bewusst, wie sehr es mich mitnahm.
    Während ich langsam weiterging, richtete ich all meine Gedanken auf Helena. Ich verlor mich in Erinnerungen an ihre Wärme und Vernunft. Mein Kopf füllte sich mit Träumen über unser Liebesspiel. Ja, ich wünschte, sie wäre hier.
    Als ich auf eine Frau stieß, war ich so überrascht, dass ich fast vom Pfad gesprungen wäre, über den Rand in den Abgrund. Erst dann erkannte ich, dass ich sie schon einmal auf dem Gipfel eines Bergfelsens getroffen hatte – in Korinth. Es war die tüttelige Nymphe mittleren Alters, die ich wie eine Prostituierte behandelt hatte und die sich Philomela nannte.
     
    XLV
    Sie stand auf dem schmalen Pfad und genoss die Aussicht mit sichtbarem Vergnügen. Sie trug ein vielfach gefaltetes griechisches Kleid, über den Schultern umgeschlagen im klassischen Stil – ein Stil, den moderne Matronen vor Jahrzehnten zugunsten der Nachahmung imperialer römischer Mode aufgegeben hatten. Wieder war ihr Haar mit einem Tuch hochgebunden, das sie mehrmals um ihren Kopf geschlungen und mit einem kleinen Knoten an der Stirn befestigt hatte. Ganz klassisch. Diese Dame hatte sich viele alte Statuen angesehen.
    Jetzt sah sie mich an. Ihr schwermütiges Gehabe war sofort vertraut; diese Art großäugiger Verwunderung geht mir mächtig auf den Keks. Auch sie war erschrocken über unsere plötzliche Begegnung. Sie hörte mit der glückseligen Träumerei auf und wurde nervös.
    »Ach, sieh mal da!« Ich ließ es onkelhaft klingen. Mir blieb kaum eine andere Wahl, als zu schlucken und mich heiter zu geben. Vielleicht hatte sie vergessen, wie rüde ich sie beleidigt hatte. Nein. Ich konnte ihr ansehen, dass sie sich nur allzu gut an mich erinnerte. »Ich bin Falco, und Sie sind Philomela, die hellenophile Nachtigall.« Ihre Augen waren dunkel, und sie hatte Stunden mit heißen Eisen verbracht, um

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