Delphi sehen und sterben
verstanden. Wir verstanden sogar, dass niemand, den er kannte, jemals seine Zerstörung verstehen würde. Sein Kummer war echt.
Zum ersten Mal hatte Tullius Statianus sein Herz geöffnet. Wir begriffen jetzt, was Aelianus davon überzeugt hatte, dass Statianus nicht der Mörder war. Auch wir glaubten an seine Unschuld.
Glaube ist kein Beweis.
Unser Gespräch war zum Stillstand gekommen. Statianus klagte, er sei müde. Er hatte so viel gegessen, dass ihm sicherlich nach einem Schläfchen zumute war. Ich wollte ihm weitere Fragen stellen, wollte seine Beurteilung der anderen aus der Reisegruppe erfahren, die Verdächtige werden mussten, wenn wir ihn für unschuldig hielten, stimmte aber zu, das auf später zu verschieben. Er teilte uns mit, wo er untergekommen war – eine miese Absteige, die allerdings auch nicht schlimmer sei als die Unterkünfte, in die Phineus seine Kunden stopfte. Phineus hatte ihm sogar gesagt, wo er nächtigen konnte. Mir fiel auf, dass er mit der üblichen Herabsetzung über Phineus redete.
Er versprach, sich am nächsten Tag mit uns zu treffen. Ich machte mit ihm aus, ihn bei seinem Gästehaus abzuholen. Inzwischen schien er durchaus bereit, mit uns zu sprechen, und ich wollte ihn nach allem ausquetschen, solange wir in Delphi waren, getrennt von der Gruppe. Dann würde ich von Aulus die Aufgabe übernehmen, Statianus zu überreden, das Orakel aufzugeben. Aber das konnte bis morgen warten. Es hatte keine Eile.
XLIII
Als wir Statianus am nächsten Tag abholen wollten, kamen mir die ersten Zweifel. Sein Gästehaus war tatsächlich ein übler Schuppen. Ich verstand, warum er sich hier nicht aufhalten wollte. Trotzdem beunruhigte es mich, als der Wirt sagte, der junge Mann sei zum Training gegangen.
»Er wollte zum Laufen. Versuchen Sie’s im Gymnasion.«
Das konnte der Anfang einer lange Suche werden. Wir hatten uns von Statianus zum Narren halten lassen. Es war uns nicht gelungen, ihn für uns zu gewinnen; er missachtete unsere Verabredung. Weder Helena noch ich sprachen es aus, aber wir überdachten unsere Ansicht erneut. War Tullius Statianus doch kein Unschuldiger, wie er uns weisgemacht hatte, sondern schuldig und ein hervorragender Schauspieler?
Niemals. Dazu war er nicht helle genug.
Trotzdem, er war nervös genug, etwas Dämliches zu tun.
Ich wusste, dass sich Helena ein Gebäude im Heiligtum anschauen wollte, das Lesche genannt wurde und wohl eine Art Gemeinschaftshaus war. Es enthielt berühmte antike Gemälde von der Zerstörung Trojas und dem Abstieg des Odysseus in den Hades. Kunstliebhaber mussten diese berühmten Bilder gesehen haben. Ich schickte Helena dort hin und sagte, wenn ich Statianus gefunden hätte, würde ich ihn aus dem Gymnasion loseisen und mit zur Lesche bringen.
Er war nicht im Gymnasion. Bis ich dort ankam, hatte ich mich meiner Besorgnis gestellt. Als ich ihn nicht finden konnte, überraschte mich das nicht. Ich befürchtete, dass er abgehauen war. Aber wohin?
Um einen klaren Kopf zu bekommen, machte ich im zentralen Innenhof halt. Ich hatte beide Laufbahnen des Gymnasions abgesucht, drinnen und draußen, und die Palästra auch, hatte sogar im Umkleideraum die Kleidungsstücke an den Haken überprüft, falls seine weiße Tunika darunter war. Schließlich blieb ich stehen, um ausgiebig zu fluchen, eine lautstarke Angelegenheit, die im Waschbereich stattfand. In der Mitte des Innenhofs befand sich ein großes Wasserbecken. An der hinteren Wand gab es noch zehn Einzelbecken, in die Wasser aus Löwenköpfen floss. Nachdem ich dort meinem Zorn Luft gemacht hatte, wandte ich mich dem Ausgang zu.
Jemand beobachtete mich.
Mein Nacken prickelte. Plötzlich wurde ich mir meiner Umgebung bewusst. Zwei Männer badeten im großen Becken nach ihren Anstrengungen auf der Laufstrecke. Ihr Spritzen vermischte sich mit den melodiösen Rinnsalen aus den Wasserspeiern. Aus der Palästra kamen die dumpfen Geräusche des Aufpralls rascher Schläge auf die Sandsäcke. Ich hörte auch Musik. Das Gymnasion wurde von Flöten- und Lyraspielern heimgesucht, genau wie von Lehrern, Rednern und Dichtern. Eine Stimme schien einen wissenschaftlichen Vortrag zu halten, obwohl der Sprecher langsam klang und der Raum, den er benutzte, widerhallte, als hätte er nur wenig Publikum.
Der Mann, der mich beobachtete, stand nervös im Durchgang. Ich starrte ihn nieder. An seiner Statur konnte ich erkennen, dass er wohl eher ein Unterhalter war als ein passionierter Athlet,
Weitere Kostenlose Bücher