Delphi sehen und sterben
sollte. Quintus hatte gewonnen. Aulus hatte mehr als die reiche Ehefrau verloren, denn Junggesellen gewinnen keine Wahlen, und daher hatte er den Senat beleidigt aufgegeben. Zeitweilig war er wurzellos gewesen und hatte mich dann damit überrascht, mein Assistent zu werden. Während eines Falls, bei dem wir als Ankläger in der Basilica Julia auftraten, hatte er beschlossen, Anwalt zu werden. Ich witzelte, dass er für einen Mann, der
meinen
Beruf für zwielichtig hielt, einen noch übler beleumdeten gewählt hatte. Aber ein juristischer Beruf war besser als gar keiner (und viel besser als meiner). Der Senator verfrachtete Aulus nach Athen, bevor der die Chance hatte, es sich anders zu überlegen. Doch seine Reaktion auf die Morde in Olympia zeigte, dass die Zeit der Zusammenarbeit mit mir in ihm eine Liebe für Rätselhaftes geweckt hatte.
»Lass uns erst über die Morde reden, wenn Helena zurückkommt. Wie läuft’s denn mit deinem akademischen Leben in Athen, Aulus?« Er setzte sich langsam auf. »Oh, so schlimm?«
»Athen«, verkündete Aulus mit sichtlicher Mühe, sein Hirn in Gang zu setzen, »ist randvoll mit Pädagogen. Alles Spezialisten. Man kann zwischen sämtlichen Zweigen der Philosophie wählen: pythagoräisch, peripathetisch, zynisch, stoisch oder orphisch.«
»Halt dich von allen fern. Wir sind Römer. Wir verabscheuen das Denken.«
»Von den Dreckigen, die sich in Lumpen kleiden und in Tonnen leben, halte ich mich auf jeden Fall fern!« Aulus war schon immer pingelig gewesen. »Männer mit großen Bärten und großem Hirn unterrichten absolut alles – Rechtswesen, Literatur, Geometrie – aber am besten sind sie im …« Auf der Suche nach dem richtigen Ausdruck verklang seine Stimme.
Ich half ihm aus: »Meinst du Saufen?«
»Wie man feiert, wusste ich schon vorher.« Er schloss die Augen. »Aber doch nicht die ganze Nacht, und jede Nacht!«
Ich ließ ihn einen Moment lang ausruhen. Dann fragte ich: »Magst du mir von deinem Tutor erzählen? Ich hörte, er heißt Minas und hat einen
enormen
Ruf.«
»Jedenfalls ein enormes Durchhaltevermögen«, gestand Aulus.
»Hast du dich ihm deshalb angeschlossen?«
»Er hat mich gefunden. Tutoren liegen in der Agora auf der Lauer und halten nach frisch eingetroffenen römischen Naivlingen Ausschau, deren Väter ihr Honorar zahlen werden. Minas hat mich ausgewählt, und als Nächstes erfuhr ich, dass er Vaters Bankier überredet hat, ihn direkt zu bezahlen. ›Überlass das mir, lieber Aelianus. Ich werde alles regeln, und
du brauchst dich um nichts zu kümmern
.‹«
»Um Himmels willen!«
»Ich bin nur ein Teigklumpen, der jeden Tag geknetet wird, bis ihm die Luft ausgeht.«
»Wehr dich, bevor dich das Tempo umbringt! Er hat deine Senatorenstreifen erkannt. Du hättest inkognito reisen sollen.« Ich sah alles vor mir. »Er nimmt an, dein dich liebender Papa sei ein Multimillionär. Jetzt kann Minas es sich richtig gutgehen lassen – und Decimus bezahlt dafür.«
»Seit der Abreise von Ostia habe ich keine Purpurstreifen getragen. Er hat einfach einen Blick für junge Römer.«
»Das liegt nur am Haarschnitt«, teilte ich ihm grimmig mit.
»Er ist sein Geld wert, Marcus.« Aulus grinste. »Er nimmt mich zu den besten Festmahlen mit, manchmal mehrere am Abend. Er stellt mir fabelhafte Frauen und exotische Knaben vor. Er zeigt mir Trinkspiele, Tanzmädchen, Flötistinnen und Lyraspieler – und dann unterhalten wir uns. Wir reden bis tief in die Nacht über alle moralischen Themen – doch morgens kann ich mich an kein einziges Wort mehr erinnern.«
»Ich muss dich darauf hinweisen, Aulus, dass deine
Mutter
mich dafür bezahlt hat, hierherzukommen und nach dir zu sehen.«
»Dann nehme ich es zurück«, gluckste er. »Ich leugne, jemals Tanzmädchen erwähnt zu haben.«
Er sackte zu einem schwachen Häuflein zusammen. Ich sah ihn beeindruckt an. »Also, Aulus Camillus Aelianus, Sohn des Decimus, sag mir: Hast du schon etwas über die Jurisprudenz gelernt?«
Woraufhin mich Aulus Camillus Aelianus, zukünftiger Spitzenanwalt, ohne Arglist anschaute. Bevor er seinen Kopf wieder in den zitternden Händen vergrub, lächelte er nur reumütig.
LV
Helenas Ausflug auf den Mark versorgte uns mit einem ausgezeichneten Athener Frühstück aus dampfend heißen Honig- und Sesampfannkuchen. Jene von uns, die keinen Kater hatten, machten sich hungrig darüber her und füllten danach die Lücken mit Gerstenbrot und Olivenpaste auf, gefolgt von
Weitere Kostenlose Bücher