Delphi sehen und sterben
je von der Gruppe gehört hat. Ich hab ihm nie davon erzählt. Ich mag mir gar nicht ausmalen, dass er von mir verlangen könnte, all das in eine grausige Rechtskundeübung zu übertragen.«
»Bist du dir sicher?«
»Er würde mir nicht dafür danken, über einen echten Fall mit ihm zu diskutieren. Er mag zwar ein Meister der Jurisprudenz sein, versucht es aber heutzutage zu vermeiden, Recht zu praktizieren. Ich bin erstaunt, dass er da eingegriffen hat.«
»Sie haben nur irgendwo seinen Namen gehört.«
»Phineus hat ihn benutzt, um eine Drohung zu untermauern. Wie kann Phineus den Namen Minas von Karystos von dir erfahren haben?«, fragte Helena.
»Hat er nicht.«
»Aquillius hat uns ausdrücklich gesagt, Minas wäre dein Tutor.«
Aulus dachte sorgfältig darüber nach. »Es gibt nur eine Möglichkeit. Ich habe an Statianus geschrieben, nachdem ich ihn in Delphi verließ. Um die Schriftrolle vollzubekommen, erwähnte ich, dass Minas mich unterrichten würde. Aber ich habe Minas erst kennengelernt, als ich nach Athen kam, und daher konnte es niemand sonst wissen. Ich habe an keinen der anderen geschrieben – zum Hades, das ist ein schrecklicher Haufen! Statianus muss es ihnen erzählt haben.«
Soviel wir wussten, hatte Statianus den Kontakt mit seinen Reisegefährten verloren, als er nach Delphi fuhr. Bei der Durchsuchung seines Gepäcks in der scheußlichen Unterkunft hatte ich keinen Brief gefunden. Einen von Aulus hätte ich bestimmt nicht übersehen.
»Die Sache mit Minas muss von Statianus an Polystratus weitergegeben worden sein. Die beiden haben einen Abend zusammen verbracht. Wir müssen davon ausgehen, dass dein Name im Gespräch erwähnt wurde.« Ich mochte nicht daran denken, dass Polystratus das Gepäck nach Statianus’ Weggang ebenfalls durchsucht und den Brief, in dem Minas genannt wurde, entwendet hatte.
»Das war nur ein freundlicher Brief.« Aulus zuckte mit den Schultern. »Warum beunruhigt dich das so, Marcus?«
»Phineus und Polystratus sind Verdächtige. Verdächtige, die über einen reden, bedeuten nichts Gutes.« Wir wechselten Blicke. Vor seiner Schwester spielte ich meine Besorgnis herunter. Wachsam geworden, begriff er nun, warum ich mich unbehaglich fühlte. »Halte dich von Orakeln fern«, warnte ich in dem Versuch, einen Witz daraus zu machen.
Der junge Glaucus, der wie üblich nichts gesagt hatte, fing meinen Blick auf und straffte sich. Ich nickte und schwieg diskret. Aber Helena Justina platzte direkt damit heraus und bat Glaucus, ihrem Bruder nicht von der Seite zu weichen, wo auch immer Aulus hinging. Unser großer junger Freund nickte ernst. Dazu hatte ich ihn schließlich mitgebracht.
Wenn sich Aulus heute Abend einer weiteren Prozession trinkfreudiger Scholaren anschloss und hinter Minas hertappte, würde das Spannungen zur Folge haben. Der junge Glaucus führte ein so sauberes Leben, dass er die Ausschweifungen verabscheuen würde. Und Aulus wurde gereizt, wenn man ihm ein Kindermädchen mitgab.
Ich schlug vor, den Tutor zu fragen, ob überhaupt jemand von der Reisegruppe Kontakt zu ihm aufgenommen hatte. Aulus, der sich allmählich von seinem Kater erholte, riet mir dringend, den richtigen Zeitpunkt abzupassen. »Minas morgens aufzusuchen hat keinen Zweck, Falco. Selbst wenn es dir gelingt, ihn zu wecken, kriegst du nichts aus ihm raus. Du musst warten, bis er bei einem Fest zum Leben erwacht. Keine Bange. Ich frage ihn heute Abend selber.«
»Schon wieder bereit für das nächste Gelage? Tja, viel Spaß. Dann kann ich deiner Mutter berichten, dass du dich voll ins akademische Leben gestürzt hast – der leuchtende Stern des Symposions. Vergiss den Fall.
Ich
werde versuchen die Reisegruppe zu finden.«
»Athen ist zu groß, um sie auf gut Glück zu suchen. Wenn sie noch hier sind, werden Phineus und Polystratus ihnen die Sehenswürdigkeiten zeigen. Ich schlage vor, dass du ebenfalls auf Besichtigungstour gehst, Marcus; du könntest in einem Tempel auf sie stoßen. Und selbst wenn das nicht passiert«, drängte Aulus, »du bist in Athen, Mann – mach das Beste daraus. Nimm meine Schwester mit auf die Akropolis. Geht los und spielt Touristen!«
LVI
Helena war niemand, die sich nach Freizeitvergnügen verzehrte, wenn wir in einer Ermittlung steckten. Seit ich sie vor fünf oder sechs Jahren kennenlernte, hatte sie an meiner Arbeit teilgehabt. Sie war so hartnäckig wie ich und konnte es nicht leiden, festzuhängen, wenn uns die Beweise ausgingen oder
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