Delphi sehen und sterben
sich unsere Theorien durch neue Hinweise als falsch erwiesen. Sie behauptete, es mache ihr gar nichts aus, den ganzen Tag nach der Sieben-Stätten-Gruppe zu suchen.
Aber ich war nicht dumm. Ein Mann, der sich entschlossen hat, mit einer Frau zu leben, die er sowohl für schön als auch intelligent hält, bringt diese Frau nicht nach Athen, dem Geburtsort der Zivilisation, und verabsäumt es, sie mit einem Tag auf der Akropolis zu verzaubern. Helena hatte dank der öffentlichen Bibliotheken Roms stets Zugang zur Weltliteratur gehabt; ihr Vater besaß seine eigene Sammlung, und daher befanden sich viele Kopien der besten Werke in ihrem Elternhaus. Angesichts dessen, dass sich ihre Brüder in intellektueller Hinsicht eher als Drückeberger erwiesen, war es Helena, die den Hauslehrern – vom Senator für die beiden Jungs eingestellt – jedes Bröckchen an Wissen abluchste. Ich las hin und wieder zum Vergnügen. Helena verschlang das geschriebene Wort, wie ein Reiher Fisch verschluckte. Würde man sie in einen Teich voll Informationen stellen, würde sie dort stehen, bis sie sich alle einverleibt hatte. Unsere Kinder konnten kreischend den Hund quälen, während gleichzeitig ein Topf überkochte, aber wenn sich Helena in eine spannende Schriftrolle vertieft hatte, entging ihr alles andere. Das geschah nicht willentlich. Sie entschwand in ihre eigene Welt, in der sie nichts aus ihrer realen Umgebung wahrnahm.
Ich machte mit ihr einen Erkundungsgang. Ich war ein romantischer Liebhaber und ließ die anderen zu Hause. Dieser Pflicht widmete ich Zeit und fast meine gesamte Aufmerksamkeit. Für Helena würde es ein bleibendes Erlebnis sein. Wir schauten uns die Altstadt an, die Agora, Theater, Odeons, dann stiegen wir langsam hinauf zur Akropolis, nahmen den Hauptprozessionsweg am Tempel der Athena Nike vorbei und dann über steile Stufen unter den Propyläen hindurch, dem monumentalen Portal. Dort verursachten wir einen Tumult, als wir den herumwuselnden Fremdenführern die kalte Schulter zeigten.
»Wir Führer können Ihnen viele nützliche Informationen bieten!«
»Von euren Informationen kriegen wir nur Kopfweh! Zu spät, wir sind bereits in Olympia und Delphi bestraft worden – also verpisst euch.«
Am Morgen war es bedeckt gewesen, aber die Sonne hatte die Wolken verjagt und brannte jetzt heiß herunter. Hier oben wehte jedoch eine angenehme Brise, so dass wir in dem wundervollen Athener Licht die Sehenswürdigkeiten und die Aussicht genießen konnten. Nachdem wir die Führer abgewimmelt hatten, ließ ich Helena um den Parthenon und die anderen Tempel und Statuen herumwandern, während ich ihren Sonnenschirm, die Wasserkalebasse und die Stola trug. Ich hörte ihrer Beschreibung der Monumente aufmerksam zu. Wir bestaunten die Athene des Pheidias und das Werk berühmter griechischer Architekten. Wir zuckten beim Anblick der römischen Denkmäler zusammen, den Athenern aufgedrängt von Augustus’ Schergen Marcus Agrippa – eine ungeschlachte Statue seiner selbst und ein Tempel der Roma und des Augustus. Beide waren beleidigend und peinlich. Griechenland mochte erobert worden sein, aber welches andere Imperium würde die Athener Akropolis verunstalten?
Ich küsste Helena neben der von Karyatiden gehaltenen Vorhalle des Erechtheion. Privatschnüffler sind nicht nur abscheuliches Gewürm. Auch ich genoss den Tag.
Allerdings hielt ich gleichzeitig die Augen offen, falls wir der Sieben-Stätten-Gruppe begegneten. Sie tauchte nicht auf.
Später am Nachmittag kehrten Helena und ich zu den anderen zurück, glücklich, aber auch etwas erschöpft, dann wappneten wir uns, mit unserem Gepäck in einen Gasthof umzuziehen. Wir machten es per Hand, das heißt zu Fuß. Da wir sowieso eine Menge Zeug mitgebracht hatten, zu dem noch die korinthischen Vasen kamen, die Helena für Papas Geschäft erworben hatte, wurde es eine langwierige und anstrengende Plackerei. Irgendwann brach ich mir fast den Arm, als ich einen Seesack hochhob, der Gaius gehörte.
»Was zum …« Die Jungs waren hoffnungslos, was ihr Gepäck betraf, und daher war mir dieser Sack vertraut. Ich hatte ihn schon mehrfach retten müssen und wusste, dass er ursprünglich nicht so schwer gewesen war. Normalerweise zog ich es vor, die persönlichen Besitztümer meiner Neffen nicht zu erforschen. Schließlich war ich auch mal sechzehn gewesen. Der Gedanke an die ungewaschene Kleidung war abschreckend genug. Diesmal jedoch brachte mich Gaius’
Weitere Kostenlose Bücher