Delphi sehen und sterben
verfluchte seine Taktik. Der Junge und ich kamen an das offene Schwimmbecken. Das stille Wasser am Ufer des Kladeos erwärmte sich langsam in der Morgensonne. Ich hetzte am Beckenrand entlang. Cornelius, zu atemlos, war keuchend und vornübergebeugt stehen geblieben. Milon hatte ihn fast erreicht. Mein Neffe sah sich verängstigt um, hielt sich dann die Nase zu, sprang ins Becken und paddelte wie wild davon. Der Sprung hatte ihn ein ganzes Stück vorangebracht, aber seine dreschenden Fäuste richteten kaum etwas aus. Milon zögerte. Vielleicht konnte er nicht schwimmen. Tja, damit waren wir schon zwei.
Glaucus war wieder aufgetaucht und hielt etwas in der Hand. Ich erkannte, was er vorhatte. Er blieb stehen. Im klassischen Stil, den Körper zurückgebeugt. Er ging in die Hocke, machte eine Dreivierteldrehung, ein Knie gebeugt, eine Schulter gesenkt, holte aus und schleuderte sein Geschoss. Bronze blitzte auf. Ein Diskus flog auf Milon zu. Wieder hatte der junge Glaucus die Regeln gebrochen; diesmal besagten die Regeln, dass ein Diskuswerfer sich vergewissern muss, dass ihm niemand im Weg steht.
Der Bronzeteller traf Milon voll an seiner enormen Schädelbasis. Er hatte ihn nicht kommen hören. Cornelius hatte sich im Becken auf den Rücken gedreht, mit staunend geöffnetem Mund. Jetzt paddelte er rasch rückwärts, um der erwarteten Gischt auszuweichen, während der schwere Mann umkippte. Doch Milon landete auf dem Beckenrand. Ich hielt mir die Augen zu, als er mit dem Gesicht nach vorne auf die Steine krachte.
Cornelius erreichte den Rand. Ich hievte ihn heraus, tropfnass und zitternd, und wickelte ihn in Glaucus’ Tunika. Glaucus war ruhig zum Beckenrand gegangen und überlegte, ob die Wettkampfregeln von ihm verlangten, Hilfe zu leisten. Er war von härterer Mentalität, als ich gedacht hatte, und entschied sich dagegen. In griechischen Sportwettkämpfen gewinnt man mit allen Mitteln, die von den Kampfrichtern akzeptiert werden. Der Verlierer schleicht sich schamvoll davon – falls er noch auf den Füßen ist. »Durch die Hintergassen heim zu Mutter«, wie sie es ausdrücken.
Ich nahm Cornelius mit zu Glaucus.
»Ist er tot?«
»Nein.«
»Blöd, dass wir nicht einfach abhauen können – aber ich fürchte, wir hatten Zeugen.«
Andere trafen ein, allen voran Lacheses, der verdammte Priester, der mich gestern so genervt hatte. Mit hochnäsiger Miene trat er an den Beckenrand und befahl den Sklaven, den Ringer umzudrehen.
Heute war Lacheses in eine knöchellange Robe gekleidet, besetzt mit Hermelin, und trug einen Zweig des wilden Ölbaums in der Hand, was wahrscheinlich darauf hindeutete, das er dem Tempel des Zeus zugeordnet war. »Sie haben fast einen Pankrationmeister getötet!«
»Er oder wir«, erwiderte ich kurz angebunden. »Jemand hat ihn beauftragt, mich anzugreifen.« Der Zeuspriester war meine erste Wahl dafür. »Glaucus, mein Freund, ich hoffe, dein Diskus entsprach der olympischen Größe.«
»Absolut«, erwiderte der junge Glaucus mit unbewegter Miene. »Ich habe ein offizielles Standardexemplar von der Wand des Gymnasions genommen. Pech für Milon, dass die in Olympia verwendeten schwerer sind als normal …« Der Priester zog über dieses respektlose Vorgehen scharf die Luft ein. »Meinen habe ich daheim gelassen«, entschuldigte sich Glaucus kleinlaut.
Ich nahm die Sache in die Hand. »Ihr Sportheld wollte uns alle umbringen. Mein Freund musste rasch handeln.«
»Sie missbrauchen unsere Gastfreundschaft!«, blaffte Lacheses. Er hatte eine wunderliche Einstellung zu traditioneller Gastfreundschaft. »Ihr Besuch unseres Heiligtums muss beendet werden. Verlassen Sie Olympia, bevor Sie weiteren Schaden anrichten.«
Die Menge schwoll an. Eine Frau mittleren Alters schob den Priester beiseite. Quer über ihrem Reisemantel hing eine Umhängetasche. Sie trug ein Kleid mit leuchtend bunten Säumen, dazu einen passenden Schleier, auf dem ein spitzer Kopfputz saß, eine teure goldene Stephane. Ein männlicher Begleiter hinter ihr war in das lange, gefältelte Gewand eines Wagenlenkers gekleidet. Eine jüngere Frau hielt einen Tragekorb und gab sich bescheiden. Sie trug einen einfachen gefalteten Chiton und hatte ihr Haar recht anziehend mit Tüchern hochgebunden. Sie hätte einer Vasenmalerei entsprungen sein können, auf der sie sich mit einem leicht anzüglichen Lächeln auf den Ellbogen stützte und Parfüm ausgoss. Glaucus und ich schenkten ihr ein bewunderndes römisches Lächeln.
Die
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