Delphi sehen und sterben
Entehrung auf der Flucht war, würde er keine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollen. Aber nun schwelgte auch er in Erinnerungen.
»Das Schlimmste, was ich gesehen habe, ist die Fütterungszeit in Krokodiopolis. Das arme Chefkrokodil dort soll angeblich ein Gott sein. Man bringt ihm körbeweise Zeug – Brot und Kuchen und Wein zum Runterspülen. Es watschelt heraus, parfümiert und mit Schmuck behängt, aber mit ahnungsvollem Blick, wenn Sie mich fragen. Die Wärter sperren ihm das Maul auf und zwängen ihm die Köstlichkeiten rein – und manchmal hat es kaum die eine Ladung geschluckt, da kommen schon die nächsten Wärter und bringen ihm noch mehr. Als ich diesen Krokodilgott sah, war er so fett, dass er sich kaum bewegen konnte. Allerdings sahen die Priester auch nicht gerade schlank aus!«
»Natürlich werden ihnen die Zähne gezogen«, verkündete Marinus.
»Meinen Sie die Priester?« Von dort, wo sie mit Helvia saß, fand Helena ihre Stimme wieder und unterbrach die endlose Flut der Geschichten mit diesem trockenen Scherz. »Marcus, haben Indus und Marinus irgendwann allein mit Statianus gesprochen? Waren sie fähig, etwas aus ihm herauszukriegen?«
»Leider war da nicht viel zu holen«, entschuldigte sich Marinus und gab der Rückkehr zum eigentlichen Thema nach. »Netter Junge, aber als an diese Familie Verstand und Tatkraft ausgegeben wurden, muss man ihn übergangen haben.«
»War das traurig für Valeria?«, fragte Helena, an Helvia gewandt.
»Nein, meiner Meinung nach passten sie gut zusammen. Valeria war ein nettes kleines Ding, aber zerstreut.«
»Fehlte es ihr an Urteilsvermögen?«
»Absolut. Sie kam direkt aus dem Kinderzimmer, Helena. Ich glaube nicht, dass ihre Mutter sie auch nur zu einem Morgenbesuch und Minztee bei einer Freundin mitgenommen hat.«
»Ihre Eltern sind tot. Sie hatte einen Vormund, Helvia, aber Sie wissen ja, wie das läuft – ist so oft nur eine reine Formalität. Ich vermute, sie wurde allein von Sklavinnen und vielleicht Freigelassenen aufgezogen.«
Helvia seufzte. »Im Nachhinein fühle ich mich scheußlich, sie nicht unter meine Fittiche genommen zu haben.« Schärfer fügte sie hinzu: »Nun ja, sie hätte mich auch nicht gelassen. In ihren Augen war sie eine verheiratete Frau, die mit ihrem Ehemann reiste. Sie wusste gar nichts, dachte aber, sie wisse alles.«
»War sie unhöflich zu Ihnen? Brachte Ihnen nicht den einer Witwe gebührenden Respekt entgegen?«
»Ein bisschen abschätzig …«
»Sie war grob zu Ihnen, Helvia!«, mischte sich Indus ein. »Sie war zu dem einen oder anderen Zeitpunkt zu den meisten grob.«
»Hatte aber möglicherweise keine Ahnung, was sie da tat«, verteidigte Marinus Valeria. Das zerstreute Mädchen musste sein Typ gewesen sein, schloss ich daraus. War das von Bedeutung? »Selbst mit ihrem Ehemann redete sie unverblümt. Sie hatte eine scharfe Zunge. Wenn ihr Mörder sie angemacht hat, hätte sie sich sofort mit einer Retourkutsche gewehrt.«
»Vielleicht hat ihn das wütend gemacht?«, meinte ich.
»Sie konnte schon ein hochnäsiges kleines Biest sein«, stimmte Indus zu. »Wie alt war sie? Neunzehn, von ungewissem Herkommen und ohne Geld. Beide waren nicht gut betucht. Als frisch Verheiratete zogen sie viel Aufmerksamkeit auf sich; wir machten ein richtiges Tamtam um sie. Sie hätten sich zurücklehnen und es genießen, ihren Spaß haben können. Stattdessen eckten sie bei allen an. Sie beleidigten die Fremdenführer, nervten uns, waren quengelig miteinander. Eigentlich nichts Besonderes, aber genau das, was man nicht haben will, wenn man unter unbequemen Umständen auf Reisen ist.«
»Demnach«, sagte ich, »hatten sie Leute verärgert. Als das Mädchen vermisst wurde, musste Statianus allein nach ihr suchen. Und als er dann des Mordes beschuldigt wurde …?«
»Oh, da taten wir uns zusammen. Er konnte nichts dafür. Dieser idiotische Magistrat brauchte einen Tritt in den Allerwertesten.«
»Und wissen Sie, wohin Statianus jetzt gereist ist?«, fragte Helena sie, immer noch in der Hoffnung auf Nachrichten von ihrem Bruder. Aber sie schüttelten alle den Kopf.
Wir schienen so viel aus ihnen herausgeholt zu haben, wie sie uns erzählen konnten, und daher erkundigten wir uns jetzt nach den beiden Männern selbst. Marinus gab sofort zu, Witwer zu sein und nach einer neuen Frau zu suchen. Wir witzelten, da sich Helvia in derselben Situation befinde, würden viele das für eine hübsche Lösung halten.
»Oh, Marinus
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