Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition)
unschuldige Ursache dieser Unruhe und Aufregung gewesen zu sein: ganz untröstlich, Madame!«
Die Dame deutete auf die Tür.
In diesem Augenblick zeigte sich trotz der ungemein mißlichen Umstände eine vorzügliche Eigenschaft von Herrn Pickwicks Charakter. Obgleich er nach Art der alten Nachtwächter seinen Hut hastig über die Nachtmütze gedrückt hatte: obgleich er seine Schuhe und Gamaschen in der Hand und seinen Rock und seine Weste auf den Armen trug, so konnte doch nichts seine angeborene Höflichkeit zurückdrängen.
»Ich bin über die Maßen untröstlich, Madame«, sagte Herr Pickwick mit einer sehr tiefen Verbeugung.
»Wenn Sie das sind, so werden Sie das Zimmer sogleich verlassen«, erwiderte die Dame.
»Unverzüglich, Madame: augenblicklich, Madame«, sagte Herr Pickwick, die Tür öffnend, wobei seine Schuhe mit großem Gepolter zu Boden fielen.
»Ich hoffe, Madame –« begann Herr Pickwick wieder, seine Schuhe aufnehmend und sich mit einer wiederholten Verbeugung nach der Dame umwendend, »ich hoffe, Madame, mein unbescholtener Charakter und die große Achtung, die ich Ihrem Geschlecht zolle, werden ein gutes Wörtchen zur Entschuldigung für mich –«
Doch ehe Herr Pickwick seinen Satz vollenden konnte, hatte ihn die Dame bereits in den Gang gedrängt, und die Tür hinter ihm verschlossen und verriegelt.
So viele Gründe Herr Pickwick auch haben mochte, sich Glück zu wünschen, daß es bei der ungeheuren Gefahr, die ihm gedroht hatte, so gnädig abgegangen war, war doch seine gegenwärtige Lage durchaus nicht beneidenswert. Er war allein, in einem offenen Gang, in einem fremden Hause, nur halb angekleidet, mitten in der Nacht. In der undurchdringlichen Finsternis konnte er unmöglich den Weg nach einem Zimmer finden, das er mit dem Licht nicht entdeckt hatte, und wenn er bei seinen fruchtlosen Versuchen das geringste Geräusch machte, so lief er Gefahr, von irgendeinem wachsamen Reisenden erschossen zu werden. Es blieb ihm daher nichts übrig, als zu bleiben, wo er war, bis der Tag anbrach. Er tappte noch einige Schritte vorwärts und stolperte dabei zu seinem unendlichen Schrecken über mehrere Paar Stiefel, dann drückte er sich in eine kleine Nische in der Wand, um den Morgen mit soviel philosophischer Ruhe wie möglich zu erwarten.
Er war aber nicht dazu bestimmt, diese neue Geduldsprobe voll durchmachen zu müssen: denn er war noch nicht lange in seinem Schlupfwinkel versteckt, als sich zu seinem unaussprechlichen Schrecken am Ende des Ganges ein Mann mit einem Lichte zeigte. Aber plötzlich verwandelte sich sein Schrecken in Freude, als er die Gestalt seines treuen Dieners erkannte. Es war in der Tat Samuel Weller, der eben im Begriff war, sich zur Ruhe zu begeben. Er hatte sich solange mit dem Hausknecht unterhalten, der die Briefpost erwartete.
»Sam«, sagte Herr Pickwick, plötzlich vor ihn hintretend, »wo ist mein Schlafzimmer?«
Herr Weller starrte seinen Herrn mit größtem Erstaunen an, und erst nachdem dieser die Frage dreimal wiederholt hatte, wandte er sich um und führte ihn nach dem lange gesuchten Zimmer.
»Sam«, sagte Herr Pickwick, als er zu Bett ging, »ich habe heute nacht einen der außerordentlichsten Mißgriffe getan, die man je erlebt hat.«
»Sehr glaublich, Sir«, erwiderte Herr Weller trocken,
»Aber ich bin entschlossen, Sam«, fuhr Herr Pickwick fort, »mich, wenn wir auch noch ein halbes Jahr in diesem Hause bleiben sollten, nie wieder allein in dieses Labyrinth zu wagen.«
»Das ist der klügste Entschluß, den Sie fassen können, Sir«, versetzte Herr Weller. »Sie sollten jemand haben, der nach Ihnen sieht, wenn Ihr Verstand auf die Wanderschaft geht.«
»Was meinst du damit, Sam?« fragte Herr Pickwick, indem er sich im Bett aufrichtete und die Hand hervorstreckte, als wolle er noch mehr sagen, dann aber hielt er plötzlich inne, legte sich auf die Seite und wünschte seinem Diener gute Nacht.
»Gute Nacht, Sir«, antwortete Herr Weller, ging zur Tür hinaus – blieb stehen – schüttelte den Kopf – ging weiter – stand still – putzte das Licht – schüttelte den Kopf wieder – und trat endlich langsam in sein Schlafzimmer, offenbar in das tiefste Nachdenken versunken.
Vierundzwanzigstes Kapitel
In dem Herr Samuel Weller alle seine Kräfte aufbietet, mit Herrn Trotter eine alte Rechnung auszugleichen.
In einem kleinen Gemach, in der Nähe der Ställe, saß am Morgen, der auf Herrn Pickwicks Abenteuer mit der Dame von
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