Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition)
in diesem Dorfe niederließ, war ein Pächter, Namens Edmunds, das verrufenste Individuum in meinem Kirchspiel. Er war ein mürrischer, bösartiger Mann, träge und Ausschweifungen ergeben, dabei wild und grausam von Gemüt. Mit Ausnahme weniger liederlicher Gesellen, mit denen er herumzustreichen und sich in den Bier- und Branntweinschenken zu betrinken pflegte, hatte er keinen einzigen Freund oder Bekannten. Niemand mochte gern mit dem Manne verkehren, den viele fürchteten. Alle aber verabscheuten ihn, und so ward er denn von jedermann gemieden.
Dieser Mann hatte ein Weib und einen Sohn, der zur Zeit, wo ich hierher kam, etwa zwölf Jahre alt sein mochte. Von den Leiden jener Frau, von der Sanftmut und Geduld, mit der sie diese ertrug, von den Kämpfen und Sorgen, unter denen sie den Knaben erzog, kann man sich schwer einen Begriff machen. Der Himmel mag es mir verzeihen, wenn ich dem Manne unrecht tue, aber ich bin fest davon überzeugt, daß er es viele Jahre hindurch geflissentlich darauf anlegte, sein Weib durch Kummer unter die Erde zu bringen. Sie ertrug jedoch alles geduldig um ihres Kindes, und wie unglaublich das auch vielen vorkommen mag, um seines Vaters willen. So roh er nämlich auch war, und so grausam er mit ihr umging, sie hatte ihn doch einst geliebt, und die Erinnerung an das, was er ihr gewesen, erweckte Gefühle der Nachsicht und Sanftmut in ihrem Herzen, wie man sie unter allen Geschöpfen Gottes bloß beim Weibe findet.
Sie waren arm – wie hätte es auch anders sein können, wo der Mann auf solchen Pfaden wandelte? Doch der unablässige und angestrengte Fleiß der Frau wendete gänzlichen Mangel ab. Freilich wurden ihr diese Anstrengungen schlecht vergolten. Leute, die noch spät in der Nacht an ihrer Wohnung vorbeigingen, erzählten, sie hätten das Wehklagen und Jammern einer Frau und den Schall von Schlägen gehört; und mehr als einmal hatte der Knabe lange nach Mitternacht noch an einem Nachbarhause geklopft, um sich vor der Wut seines betrunkenen, unnatürlichen Vaters zu retten.
Während dieser ganzen Zeit besuchte die arme Frau, die die Spuren der üblen Behandlung nicht immer ganz verbergen konnte, regelmäßig unsere kleine Kirche. Jeden Sonntag, im Früh- und Nachmittagsgottesdienst, saß sie mit ihrem Knaben an derselben Stelle: und obgleich beide nur ärmlich – und zwar noch ärmlicher, als viele ihrer noch bedürftigeren Nachbarn – gekleidet waren, so war ihr Anzug doch immer sauber. Jedermann hatte einen freundlichen Gruß und ein tröstendes Wort für die arme Frau. Wenn sie bisweilen nach dem Gottesdienste unter den Ulmenbäumen vor der Kirche stehen blieb, um ein paar Worte mit einer Nachbarin zu wechseln, oder mit all dem Stolz und all der Liebe einer Mutter ihrem blühenden Knaben zuzuschauen, wie er sich mit seinen kleinen Gespielen herumtummelte, dann röteten freudige Empfindungen ihr von Sorgen gebleichtes Gesicht, und sie sah, wenn auch nicht froh und glücklich, doch ruhig und zufrieden aus.
So verstrichen fünf bis sechs Jahre, und der Knabe war zu einem starken, wohlgebauten Jünglinge herangewachsen. Die Zeit, die den zarten Gliederbau des Kindes zu männlicher Kraft reifte, hatte die Gestalt der Mutter gebeugt und ihre Schritte wankend gemacht: aber der Arm, der sie hatte stützen sollen, ergriff nicht mehr den ihrigen: das Antlitz, das sie hätte erheitern sollen, war ihrem Anblick entzogen. Sie behauptete ihren Platz in der Kirche, aber die Stelle neben ihr war leer. Sie hielt die Bibel so andächtig wie immer in der Hand, aber es war niemand da, sie mit ihr zu lesen, und schwere Tränentropfen fielen auf das Buch, so daß ihr die heiligen Worte vor den Augen verschwammen. Die Nachbarn waren gegen sie noch ebenso freundlich wie vorher, aber sie vermied ihre Grüße mit abgewandtem Gesicht. Sie weilte nicht mehr zögernd unter den Ulmenbäumen – kein süßer Vorgenuß künftigen Glücks war übriggeblieben. Die verlassene Frau zog den Strohhut tiefer ins Gesicht und ging eilenden Schrittes von dannen.
Muß ich erst sagen, daß der junge Mensch bei dem Rückblick auf die Tage seiner frühesten Kindheit sich an nichts erinnern konnte, was nicht auf irgendeine Weise mit einer langen Reihe von freiwilligen Entbehrungen, die sich seine Mutter um seinetwillen auferlegte, von Kränkungen und Leiden, die sie für ihn ertragen hatte, zusammenhing? Muß ich sagen, daß er sich mit gefühlloser Gleichgültigkeit gegen ihren grenzenlosen Kummer und ihre
Weitere Kostenlose Bücher